BIP-Alternative: Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“

Vorberichterstattung des Deutschen Bundestages

Eine spürbare Senkung des Ressourcenverbrauchs und eine effizientere Regulierung der Finanzmärkte dürften zu den zentralen Forderungen des Abschlussberichts derEnquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ gehören, den das Gremium am Montag, 15. April 2013, verabschieden will. Präsentiert werden soll dann auch ein griffiger Name für das „Indikatoren-Set“, mit dessen Hilfe künftig über das allein am quantitativen Wachstum orientierte Bruttoinlandsprodukt (BIP) hinaus auf differenzierte Weise die gesellschaftliche Wohlfahrt gemessen werden soll. Offen ist, ob die Kommission dafür plädieren wird, künftig „Jahreswohlstandsberichte“ zu erstellen, um positive wie ungünstige Trends bei der Lebensqualität zu beleuchten. Unklar ist, ob die fünf Fraktionen angesichts vieler Differenzen ihre Expertise einhellig beschließen werden oder ob konträr abgestimmt wird – wobei Minderheitenpositionen als Sondervoten im Text mit berücksichtigt werden. Die Sitzung unter Leitung von Daniela Kolbe (SPD) beginnt um 13.15 Uhr im Raum E 700 des Paul-Löbe-Hauses in Berlin.

Sie wird live im Internet auf www.bundestag.de und auf mobilen Endgeräten übertragen.

Die Wohlfahrt neu denken

Zu den Motiven für die Einsetzung der Enquete-Kommission gehörte die Erkenntnis, dass Wachstum zunehmend negative Folgen wie etwa Umweltzerstörungen, Finanzkrisen oder Verteilungsungerechtigkeiten zeitigt. Einigkeit herrscht denn auch, dass die Steigerung der Wirtschaftsleistung kein Selbstzweck mehr sein soll.

Die 17 Abgeordneten und 17 Wissenschaftler sollen das BIP als Rechengröße für Wohlfahrt weiterentwickeln und um ökologische, soziale und kulturelle Kriterien ergänzen. Letztlich soll die Arbeit des Gremiums in die Definition von nachhaltigem Wirtschaften und qualitativem Wachstum münden. Eine zentrale Frage: Lassen sich Ziele wie ein ökologisches Gleichgewicht, soziale Sicherung, eine hohe Beschäftigungsquote, eine gute Gesundheitsversorgung für alle oder ein breiter Zugang zu Bildung auch ohne hohe Wachstumsraten erreichen? Im Kern wird der Abschlussbericht auf den Expertisen von fünf Projektgruppen fußen. Im Folgenden einige wesentliche Aspekte dieser Analysen.

Grundsatzstreit um das Wachstum

Union und FDP haben gegen SPD, Linke und Grüne durchgesetzt, dass auch in Zukunft ein im Prinzip positives Verständnis von Wachstum gelten soll: Dieses stelle technisch-innovative wie finanzielle Mittel bereit, um Nachhaltigkeit in Gang zu bringen, Finanzkrisen und Umweltbelastungen zu meistern oder Beschäftigung, Sozialleistungen und Schuldenabbau zu ermöglichen.

Für die Opposition hingegen erfordern schwere Krisen wie Klimawandel oder soziale Ungleichheit ein grundlegendes Umdenken: Die Politik müsse die Nutzung der Atmosphäre, des Bodens, des Wassers und der Rohstoffe begrenzen sowie im Blick auf soziale Gerechtigkeit hohe Einkommen stärker besteuern.

Leitindikatoren, Warnlampen, Hinweislampe

Union, SPD und FDP befürworten als politische Handlungsschnur ein Konzept für eine alternative Wohlfahrtsmessung, wonach die für die Lebensqualität als zentral definierten drei Kriterien „Materieller Wohlstand“, „Soziales und Teilhabe“ sowie „Ökologie“ über zehn „Leitindikatoren“ berechnet werden: BIP, Einkommensverteilung, Staatsschulden, Beschäftigungsquote, Bildungsniveau, Gesundheit, das Maß an Freiheit, nationale Emissionen von Treibhausgasen, Stickstoffkreislauf und Artenvielfalt.

Hinzu kommen neun „Warnlampen“ und eine „Hinweislampe“, die bei heraufziehenden Gefahren frühzeitig aufblinken sollen – zum Beispiel beim Standard der Weiterbildung, beim Lebensalter der Bürger oder bei der Qualität der Arbeit. Für Linke und Grüne ist dieses Modell  zu kompliziert und deshalb als Instrument der politischen Steuerung ungeeignet.

Rohstoffverbrauch senken – aber wie?

Fraktionsübergreifend konstatiert die Kommission, dass in einigen Bereichen wie dem Klimawandel, der Artenvielfalt, der Stickstoffbelastung oder der Übersäuerung der Ozeane die Grenzen der Umweltnutzung bereits überschritten seien. Als Ursache wird ein „Trilemma“ aus Bevölkerungswachstum, Energiekonsum und Schadstoffausstoß benannt. Ins Visier genommen wird zudem der „Rebound-Effekt“: Der technische Fortschritt bewirkt eine ökologische Entlastung, die aber durch Mehrverbrauch wettgemacht wird – wenn etwa Automotoren weniger Benzin benötigen, diese Einsparung jedoch durch mehr Fahrkilometer neutralisiert wird.

Einhellig verlangt das Gremium eine drastische Verminderung des Ressourcenkonsums. Aber wie? Die Koalition appelliert an die nächste Regierung, auf der Basis der Analysen der Kommission entsprechende Strategien zu entwerfen. Union und FDP widersetzen sich einem Katalog der Opposition mit 40 konkreten Vorschlägen zur Senkung des Rohstoffverbrauchs, unter anderem über ein Wertstoffgesetz, ein besseres Recycling oder den Kampf gegen die Spekulation mit Ressourcen.

Finanzmärkte stärker regulieren

Nachhaltigkeit soll eine Leitlinie auch für die Finanzen werden. So plädiert das Gremium für eine Stabilisierung der Finanzmärkte über deren schärfere Regulierung etwa mit Hilfe höherer Eigenkapitalquoten der Kreditinstitute, einer wirksamen Kontrolle der Schattenbanken und einer effizienten EU-Bankenaufsicht. Keine Mehrheit findet die Idee von SPD, Linken und Grünen, die Staatsfinanzen auch durch eine Vermögenssteuer zu stabilisieren. Auf Widerstand bei der Opposition stößt wiederum der von Union und FDP unter Verweis auf den Sachverständigenrat eingebrachte Vorschlag, das Rentenalter langfristig auf 69 Jahre anzuheben.

Konträr abgestimmt wird am 15. April über zwei Papiere, in denen Koalition und Opposition ihre gegensätzlichen Prinzipien einer „nachhaltig gestaltenden Ordnungspolitik“ erläutern. Union und FDP haben eine „pragmatische Anpassung“ der sozialen Marktwirtschaft an die Erfordernisse der Nachhaltigkeit im Auge. SPD, Linke und Grüne erachten eine „Neujustierung“ der sozialen Marktwirtschaft mit einer stärkeren politischen Steuerung für nötig.

Kein Konsens zur Arbeitswelt

Offen bleiben dürfte im Abschlussbericht die Frage, wie eine zukunftsfähige Arbeitswelt aussehen soll. Vom Verlangen nach einer Ausweitung der Frauenerwerbsquote abgesehen, konnte dazu kein Konsens hergestellt werden. Ein nachhaltiger Konsum der Bürger soll unter anderem durch bessere Siegel und Zertifikate, durch Produkte mit längerer Lebensdauer und durch mehr Aufklärung über saisonal und fair gehandelte Lebensmittel erleichtert werden.

Brisant mutet die in einer Fußnote versteckte Überlegung an, die Verbraucher beim Fleisch über eine Abschaffung der ermäßigten Mehrwertsteuer mit höheren Preisen zu belasten.

Zeit: Montag, 15. April 2013, 13.15 Uhr
Ort:  Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal E 700

Interessierte Besucher können sich im Sekretariat der Enquete-Kommission unter Angabe des Vor- und Zunamens, des Geburtsdatums und der Personalausweis- oder Reisepassnummer anmelden (E-Mail: enquete.wachstum@bundestag.de). Zum Einlass muss das Personaldokument mitgebracht werden.

Bild- und Tonberichterstatter können sich beim Pressereferat (Telefon: 030/227-32929 oder 32924) anmelden.

Weitere Informationen

  • Tagesordnungen
  • Sitzungen und Anhörungen
  • Kommissionsdrucksachen
  • Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“

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(mb / Quelle: Deutscher Bundestag)

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