Arbeitszeitverkürzung: 200 Politiker und Wissenschaftler fordern 30-Stunden-Woche

„Arbeitszeitverkürzung: Sind wir schon in einer klassenlosen Gesellschaft?“, Kommentar von Karl Brenke, Wissenschaftlicher Referent beim Vorstand des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Der Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder.

Vor etwa zwei Wochen traten 200 Politiker und Wissenschaftler mit einem offenen Brief an die Medien, in dem sie eine Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden pro Woche forderten, um dadurch die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Die Idee scheint unmittelbar einleuchtend zu sein: Wenn alle weniger arbeiten, kann man mehr Leuten einen Arbeitsplatz verschaffen. Den bereits Beschäftigten soll in Zukunft ein Teuerungsausgleich gezahlt werden, die Produktivitätszuwächse sollen dazu dienen, um die Arbeitszeitverkürzung zu finanzieren. Wer diese Vorstellungen durchsetzen soll, bleibt allerdings offen.

Im Kern erinnert diese Idee stark an Karl Marx, der – Hegel vom Kopf auf die materialistischen Füße stellend – das „Reich der Freiheit“ in der klassenlosen Gesellschaft ähnlich beschrieben hat. Irgendwann seien die technischen Möglichkeiten so weit entwickelt, dass es immer weniger zu tun gäbe. „Wenn alle arbeiten müssen, der Gegensatz von Überarbeiteten und Müßiggängern wegfällt … und außerdem die Entwicklung der Produktivkräfte in Betracht gezogen wird, so wird die Gesellschaft den nötigen Überfluss in 6 Stunden produzieren.“ Das wäre aber nur der erste Schritt, denn im Kommunismus geht es weiter: „Durch das gemeinschaftliche Wirtschaften wird erst Folgendes möglich: die freie Entwicklung der Individualitäten, und daher … die Verkürzung der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum“. Das wäre faktisch das Ende der Geschichte, denn der Gesellschaft geht angeblich die Arbeit aus. Solcher Ansicht sind auch die Anhänger eines bedingungslosen Grundeinkommens, die Nichtstun zum Normalfall erklärt haben wollen. Welche Art von Schlaraffenland es auch sein mag – auch dort ist Arbeit nötig. Vielleicht braucht man weniger Facharbeiter und Ingenieure, aber dafür umso mehr Psychologen und Sozialarbeiter.

Wer offenen Auges durch dieses Land geht, sieht allerdings, dass es im ganz schlichten materiellen Bereich noch reichlich zu tun gibt. Beispielsweise wird vielerorts bei der öffentlichen Infrastruktur von der Substanz gelebt, oder es fallen, obwohl dieses Land zur Bildungsrepublik ausgerufen wurde, weiterhin viel zu viele Unterrichtsstunden in den Schulen aus. Für ein Gefühl von Saturiertheit mag es zwar in manchen Salons und Studierstuben gute Gründe geben, für die gesamte Gesellschaft ist es aber nicht angebracht. Anderenfalls müsste erklärt werden, warum reichere Gesellschaften – etwa die Schweiz oder manche  skandinavische Länder – ein viel höheres Beschäftigungsniveau als Deutschland vorweisen. Zudem ist es keineswegs so, dass die durchschnittlichen Löhne, von den unteren ganz zu schweigen, inzwischen solch ein Niveau erreicht hätten, dass in aller Zukunft nur noch ein Inflationsausgleich gezahlt werden müsse. Und sicherlich wollen nicht wenige Arbeitnehmer lange arbeiten, um entsprechend auch mehr zu verdienen. Will man das verbieten?

Von all dem abgesehen: Wie es bei vermeintlich simplen Vorschlägen nun einmal so ist – der Teufel steckt im Detail. Wie in allen Industriestaaten ist auch hierzulande die Arbeitslosigkeit nicht gleich verteilt. Betroffen sind vor allem Personen ohne Berufsausbildung. Denen wird es kaum helfen, wenn der Klinikarzt weniger arbeitet – oder sollen sie künftig etwa eine Rückenmarktransplantation durchführen? Man wird also vor allem das besonders knappe Arbeitsplatzangebot für einfache Arbeit umverteilen müssen. Da passt es allerdings nicht so recht ins Bild, wenn gerade diejenigen, die nach Arbeitszeitverkürzungen rufen, auch zugleich einen hohen Mindestlohn fordern. Einfache Arbeit lässt sich am einfachsten durch Produktivitätssteigerungen wegrationalisieren, und den Arbeitslosen ohne Ausbildung wäre dann überhaupt nicht geholfen. Wie soll überhaupt garantiert werden, dass die Arbeitszeitverkürzungen tatsächlich in zusätzliche Arbeitsplätze umgesetzt werden? Die Erfahrungen in der Metall- und Elektroindustrie oder im öffentlichen Dienst widersprechen doch vielmehr dieser Hoffnung. Ob es die Höhe der Löhne oder die Länge der Arbeitszeit ist – in beiden Fällen geht es um Verteilungsfragen. Und bei der Einkommensverteilung wird man – selbst als Politologe oder Jurist – feststellen, dass von einer klassenlosen Gesellschaft überhaupt keine Rede sein kann.

(DIW Berlin 2013)

Weiterführende Informationen: Vergleich der Arbeitszeit in Europa

Laut dem französischen Wirtschaftsforschungsinstitut Coe-Rexecode arbeitete man 2010 in Rumänien mit 2.095 Stunden im Jahr am länsten, vor Ungarn (2.021), Griechenland (1.971), Deutschland (1.904), Großbritannien (1.856), Italien (1.813), Spanien (1.798), Frankreich (1.679), am wenigsten in Finnland mit 1.670 Stunden.

Anders sieht es bei der tariflichen Sollarbeitszeit aus. Hier ist Deutschland auf dem drittletzten Platz: In Polen und Ungarn wird mit 1856 und 1848 Stunden am meisten verlangt, hinter Deutschland (1659) liegen nur noch Dänemark (1628) und Frankreich (1602).

Selbständige arbeiten allerdings deutlich länger, in Deutschland im Schnitt 2.459 Stunden pro Jahr. Dies wird innerhalb der EU nur von den österreichischen Selbstständigen mit 2.551 Stunden im Jahr übertroffen.

Die Urlaubs- und Feiertage summierten sich in Deutschland im Jahr 2010 auf 40 freie Tage. Das ist zusammen mit Dänemark der Spitzenplatz in der EU. Frankreich hatte 35, Schlusslicht Ungarn nur 29 Tage.

Bei der Lebensarbeitszeit sieht die Reihenfolge etwas anders aus: Der Mittelwert für die 27 Mitgliedsstaaten der EU liegt bei 34,5 Jahren, 1,6 Jahre mehr als im Jahr 2000. Am längsten arbeiten die Schweden mit rund 40,1 Jahren. Deutschland liegt mit 36,8 Jahren (+2,5 Jahre gegenüber dem Jahr 2000) um 2,3 Jahre über dem EU-Mittel. Die Ungarn arbeiten dabei am kürzesten innerhalb der EU, die Lebensarbeitszeit beträgt hier im Schnitt 29,3 Jahre.

(mb)

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