Der Club der toten Zyniker Versuch über Zahlen und Werte

Zynismus ist das aufgeklärte, falsche Bewusstsein

Peter Sloterdijk

Carpe diem – macht Euer Leben zu etwas Besonderem

Der Captain in „Der Club der toten Dichter“

Was sind unsere Werte, die Werte unserer Gesellschaft? Die Werte, nach denen wir ein „gutes Leben“ bemessen? Skandale und Krisen stellen den Begriff der Werte mehr denn je in Frage: Sind Werte am Ende zu reinen Zahlen-Werten verkommen? Unternehmen wie VW oder die Deutsche Bank, die für ihre Gewinnmaximierung auch vor kriminellen Machenschaften nicht zurückschrecken, lassen das vermuten. Aber war es in der „guten alten Zeit“ tatsächlich so viel besser?

In seiner heutigen Kolumen „QUERGEDACHT UND QUERGEWORTET“ beschäftigt sich Ulrich B Wagner mit der Frage, welche Werte wir heute noch leben und ob früher alles besser war.

Zyniker sind aus der Zeit gefallen

„Zynismus steht in Sloterdijks Kritik für die paradoxe Struktur eines aufgeklärten, aber gleichwohl unglücklichen und falschen Bewusstseins, dem es nicht an Wissen mangelt, sondern an Hoffnung, in einer sinnvollen Geschichte zu leben“, schrieb der Deutschlandfunk, am 5. Juni 1983 anlässlich der Veröffentlichung Sloterdijks „Kritik der zynischen Vernunft“, die mittlerweile mit Recht zu den Klassikern der modernen Philosophie gehört.

Es waren andere Zeiten, ein anderes Zeitempfinden, ein anderes Leben, eine andere Welt und doch…? Oder doch nicht?

Wir sind aus der Zeit gefallen. Oder, wie es der Vater des großen zeitgenössischen Schriftstellers Jonathan Franzen ausdrückte: „Man könnte sterben und es überhaupt nicht merken.“

Damals gab es noch Werte… wirklich?

„Der Club der toten Dichter“, ein Film, der mit mir gefallen ist, ein Film über das Menschsein. Oder vielleicht doch nur ein Film über das Menschsein in einer anderen Zeit. Der Lehrer John Keating, gespielt von dem unvergessliche Robin Williams, ist (war) Identifikationsfigur für Generationen junger Menschen und ich war einer davon. Die Personen ringen mit den zentralen Fragestellungen unseres Lebens: Liebe, Freundschaft und Freiheit.

Es ist seltsam, es berührt einen mit dem Älterwerden immer mehr, das Zurückblicken auf … Worauf blicken wir eigentlich zurück? Wir, sie, ihr, jeder einzelne von uns und dann von Zeit zu Zeit wieder zusammen? Sind es die selben Bilder? Und es wenn nicht dieselben sind, ähneln sie sich vielleicht gar nicht, da sie nur eine Täuschung und Konstruktion unseres Unbewussten sind? Sei’s drum.

Werte und Zahlen

Guten Morgen und aufgewacht in der neuen, alten Welt, einer Welt der Zahlen und Werte, einer Welt der Funktionsgleichungen, physikalischer und ökonomischer Größen, und nicht der von moralischen Vorstellungen. Die Wertvorstellung per se ist obsolet, sie passt nicht mehr hinein, wirkt wie ein Fremdkörper in einer Welt angeblicher Experten, die stur der Herrschaft einer ganz bestimmten Kennzahl unterworfen sind: dem Quartalsgewinn, der Mutter aller Zahlen, wie der englische Philosoph Colin Crouch im aktuellen Spiegel anmerkte.

Doch es scheint sowieso ein Problem mit den Zahlen zu geben, selbst wenn man sie auf dem Boden der nackten Tatsachen belässt, außerhalb aller Sphären der moralischen Wertvorstellungen. Wenn sie nicht reinpassen, passen sie nicht rein. Es kann daher sehr leicht gehen, dass ein Wissenschaftler Werte entdeckt, physikalische bitte, immer noch keine ethischen oder sonstige weichgespülte, echte „harte“ Zahlen, die an den noch härteren der finanziellen Vorgaben abprallen, wie Körpersäfte am Latexanzug einer Wolfsburger Domina, wie gerade am aktuellen Abgasskandal von VW gesehen.

Dann muss die Realität den Vorgaben angepasst werden, denn es gibt keine jenseits der egozentrischen, selbstgezimmerten Gewinnorientierung. Wobei das Wort Gewinn…, doch lassen wir das und heben es uns für ein anderes mal auf.

Süßes Vergessen

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Ist Vergessen eine Gnade? (Bild: © Jörg Simon)

Die Zentrierung, die Verengung des Blicks auf Effizienz, Gewinnmaximierung und Zielvorgaben hat den Charme von Propofol. Sie wissen dieses süße, kleine Mittelchen, das Michael Jackson so gerne nahm und dann einige Zeit später, viel später…

Eigentlich gilt es als Narkotikum, was ein wenig verwirrend ist, denn es killt nicht den Schmerz, sondern nur die Erinnerung an ihn. Mit der richtig bemessenen Menge von Propofol bleibt man wach. Anders als bei Michael beim allerletzten mal. Wenn es zu viel ist, ist es halt zu viel, man kann sich aber partout nicht erinnern, kurz davor, Sekunden nur davor bloß hellwach gewesen zu sein. Es mag sein, dass man sogar unendliche Schmerzen erleidet, empfindet und irgendwie und -wo sogar davon berührt wird. Da man sich aber einfach gar nicht mehr von einem Augenblick auf den anderen an ihn erinnern kann, scheint es, als hätte es ihn nie gegeben.

Propofol folgt einer anderen Logik, ähnlich, identisch fast mit dem Empfinden der Herren aus dem Club der toten Zyniker, die ihrer eigenen Logik folgt, einer Logik, in der es den nächsten Moment nicht zu geben scheint. Und wenn es ihn nicht gibt, gibt es auch keine Folgen, keinen Folgen dessen was dem Augenblick, seinen Zahlen und Werten entspringt.

Die Dosis macht das Gift

Was das mit Leben zu tun hat? Ich weiß es nicht. „Leben heißt, sich in der Zeit vorwärtszubewegen; unser Identitätsgefühl besteht aus den von uns selbst handelnden Geschichten, an die wir uns erinnern, und tot sein, heißt sich an keine Geschichte mehr erinnern zu können“, schrieb Jonathan Franzen einmal.

Vielleicht stimmt einfach die Dosis nicht? Von wem kann ich leider auch nicht final entscheiden. Ob es die unsrige ist, oder doch die der Herren in Wolfsburg & Co. – macht das noch einen Unterschied?

Für mich auf alle Fälle! Ich hole mir jetzt die DVD von „Der Club der toten Dichter“ und überlege schon einmal für mich wie es wirklich weitergehen soll…

In diesem Sinne wünsche ich uns allen mehr Mut zum wachen Leben.

Ihr
Ulrich B Wagner

Über Ulrich B Wagner

Ulrich Wagner
QUERGEDACHT & QUERGEWORTET (Foto: © Ulrich B. Wagner)

Ulrich B Wagner (Jahrgang 1967) ist Diplom-Soziologe, Psychologe, Schriftsteller und Kolumnist. Sein Studium der Soziologie, Psychologie & Rechtswissenschaften absolvierte er an der Johann Wolfgang von Goethe Universität, Frankfurt am Main. Zusammen mit Professor Karl-Otto Hondrich arbeitete er am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an einer Reihe von Forschungsprojekten zum Thema  „Sozialer und kultureller Wandel“.

Ulrich B Wagner ist Dozent an der european school of design in Frankfurt am Main mit dem Schwerpunkt  Kommunikationstheorie, Werbe- und Konsumentenpsychologie, sowie Soziologie und kultureller Wandel und arbeitet als Berater sowie systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikation und Konzeptentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

Zu erreichen: via Mail ulrich@ulrichbwagner.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).

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