Der gläserne Deutsche. Über Vertrauen und Freundschaft in Zeiten der NSA

… aus der wöchentlichen Kolumne „QUERGEDACHT & QUERGEWORTET  – Das Wort zum Freitag“ von Ulrich B Wagner. Nachdem Sie in „Ich verstehe die Frage jetzt nicht … blühe deutsches Jammertal“ mehr über die Gemeinsamkeiten zwischen der Deutschen Fußballnationalmannschaft und dem Statistischen Bundesamt erfahren haben, geht es heute in „Der gläserne Deutsche. Über Vertrauen und Freundschaft in Zeiten der NSA“ um die Abhöraktivitäten der Amerikaner und die Bespitzelung der Deutschen durch die Geheimdienste NSA, CIA & Co. Ulrich B Wagner stellt die Frage, ist es rechtens, was sich der Deutsche durch die Freunde aus Übersee alles gefallen lassen muss, oder geht es am Ende um mehr, also Vertrauen, Anstand und Respekt.

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!
Wladimir Illjitsch Lenin

Ältere Bekanntschaften und Freundschaften haben vor neuen hauptsächlich das voraus,
dass man sich einander schon viel verziehen hat.
Johann Wolfgang von Goethe

George Orwell 1984 wird für Deutsche zur Realität

Orwells Klassiker „1984“, zu unserer Zeit noch Pflichtlektüre im Englischunterricht und erschreckendes Horrorszenario der totalen Überwachung, dem Verlust der Privatsphäre und der Souveränität, kann heute leider nur noch als blumiges, verträumtes, romantisches Bild aus besseren Zeiten gelesen werden.

Mit prophetischen Klassikern ist es nämlich wie mit der allseits bekannten Büroweisheit: „Und aus dem Chaos sprach eine Stimme zu mir: Lächle und sei froh, es könnte schlimmer kommen!, und ich lächelte und war froh, und es kam schlimmer…!“  

Deutsche im Fokus der Spionage

Unter den guten alten Freunden Deutschland und USA jagt ein Abhör- und Spionageskandal den nächsten. Spione im BND und im Verteidigungsministerium, abgehörte Politikerhandys bis hoch zu Angies Blackberry. Gerechtfertigte, kollektive Erregung oder doch nur am Ende des Tages stinknormale Routine und der gute Ton unter Freunden?

Am Ende des Tages gar alles nur Theater? Ist die Erregung, Empörung und das gesamte öffentliche Auftreten in diesem Kontext gar einer bemerkenswerten schauspielerischen Leistung geschuldet und bloßes Opium für uns blöde und leichtgläubige Bürger?

Alles legal?

Der Reihe nach! Agieren die Amerikaner gar nicht im rechtsfreien Raum, sondern hören unsere Telefonate völlig legal ab? Vom Absaugen unserer Daten, Mails und dem Anzapfen unserer Server erst einmal ganz zu schweigen.

So treiben sie es, wann und wo sie es wollen, speichern tagtäglich Daten über Daten und erstellen mittels ausgefeilter Algorithmen, erschreckende Persönlichkeits- und Verhaltensprofile von uns.

Unter Freunden macht man so etwas was nicht, würden Sie jetzt gerne einwenden? Vergessen Sie es. Es gibt Phasen in jeder Freundschaft und Beziehung, in der ist das Hirn und die Vernunft in Folge von Liebe und Dankbarkeit entweder komplett ausgeschaltet oder das Vertrauen in das Gute im Anderen schier grenzenlos ist.

Denn im so genannten G10 Gesetz wurde den Amerikanern das Recht eingeräumt, alle Fernmeldeaktivitäten in Deutschland abzuhören. Mit diesem Akt haben wir nicht nur das Anzapfen unserer Handys und Rechner legitimiert, sondern auch als Staat weitgehende Rechte an unserer Souveränität abgetreten.

Das Gesetz, das unter Fachleuten auch gerne hochtrabend als “„usführungsbestimmungsvereinbarung” betituliert wird, basiert auf einem Gesetz aus den 1950er Jahren. Die Grundlage dieser Bestimmung ist der Artikel 3, Absatz 2 des „Zusatzabkommens zum Nato-Truppenstatut“ vom 3. August 1959.

Im Artikel 60 des Abkommens ist unter anderem festgelegt, dass die von den amerikanischen Truppen errichteten „Fernmeldeanlagen“ „an die öffentlichen Fernmeldenetze der Bundesrepublik angeschlossen werden“ können. Das bedeutet insbesondere, dass die amerikanischen Freunde bis heute völlig legal alle Telefongespräche in Deutschland anzapfen dürfen. Was und wieviel unterliegt nur der Kapazität ihrer Speicher und was sie schließlich damit anstellen, unterliegt keiner Kontrolle und schon erst Recht nicht der des deutschen Souveräns.

Mit Sicherheit ist davon auszugehen, dass diese eigentlich für den Schutz der in Deutschland stationierten Truppen gedachten Möglichkeiten längst dem Internet-Zeitalter angepasst sind und die Amerikaner, in Weiterentwicklung des Artikel 60, auch längst das Recht haben, deutsche Server anzuzapfen, also uns Deutsche abzuhören.

Ihre volle Pracht entfalteten die obigen Regelungen jedoch dann nochmals nach dem 11. September 2001. Nach dem Anschlag auf das World Trade Center wurde von Präsident George W. Bush der Nato-Bündnisfall ausgelöst und der Krieg gegen den Terror erklärt. Auch das geschah auf rechtlicher Grundlage, wenngleich auch diesmal wieder „streng geheim“.

Die Zeitschrift German Foreign Policy schrieb in diesem Zusammenhang: „Völlig ungeklärt ist nach wie vor die Rolle einer ebenfalls streng geheim gehaltenen NATO-Vereinbarung vom 4. Oktober 2001. Der Schweizer Liberale und ehemalige Sonderermittler des Europarats Dick Marty hat mehrmals darauf hingewiesen, dass das Kriegsbündnis unmittelbar nach der offiziellen Ausrufung des Bündnisfalls an diesem Tag eine Geheimsitzung abhielt, auf der die Geheimdienste, geführt von der CIA, faktisch freie Hand im „Anti-Terror-Krieg” erhielten – die Verschleppung von Verdächtigen mutmaßlich inklusive. Der Bündnisfall ist, wie der Deutsche Bundestag zuletzt am 13. Dezember 2012 bestätigte, weiterhin in Kraft.“

Liebe Deutsche, was soll die Aufregung!

Wir sollten daher aufhören, uns zu brüskieren und anzuerkennen, dass wir in einem Zustand des immerwährenden Kriegsrechts inklusive digitaler Besatzung leben.

Das Abhören unserer Smartphones und das Anzapfen unserer Rechner ist schlicht und ergreifend genauso legal, wie es im Rahmen einer Weltmeisterschaft legal ist, Brasilien zu besiegen! Es ist nur eine Frage des Anstands und des Respekts gegenüber dem Gastgeber, ob man ihn am Ende des Tages komplett brüskiert oder nach dem 4:0 Gnade walten lässt und das Mobiltelefon der Kanzlerin als Zeichen der Ehrschätzung zumindest in Ruhe lässt.

Mir ist es sowieso egal, ob die Jungs mithören. Auf jeden Fall zeigt jedoch das Ausmaß des Spionage- und Abhörskandals, wie paranoid und traumatisiert diese Nation und wir Deutsche sind. Ich entschuldige mich schon heute an dieser Stelle bei unseren Freunden, dass ich von Zeit zu Zeit ein wenig hessisch babble. Ich hoffe ihr habt einen qualifizierten Übersetzer. Wenn nicht, einfach mal kurz zurückrufen. Ich helfe gerne!

Ihr Ulrich B Wagner

Über Ulrich B Wagner:

Ulrich B Wagner
(Foto: © Ulrich B. Wagner)

Ulrich B Wagner (Jahrgang 1967) ist Diplom-Soziologe, Psychologe, Schriftsteller und Kolumnist. Sein Studium der Soziologie, Psychologie & Rechtswissenschaften absolvierte er an der Johann Wolfgang von Goethe Universität, Frankfurt am Main. Zusammen mit Professor Karl-Otto Hondrich arbeitete er am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an einer Reihe von Forschungsprojekten zum Thema  „Sozialer und kultureller Wandel“.

Ulrich B Wagner ist Dozent an der european school of design in Frankfurt am Main mit dem Schwerpunkt  Kommunikationstheorie, Werbe- und Konsumentenpsychologie, sowie Soziologie und kultureller Wandel und arbeitet als Berater sowie systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikation und Konzeptentwicklung, Begleitung von
Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

Zu erreichen: via Mail ulrich@ulrichbwagner.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).

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