Der lange Abschied!

Die wöchentliche Business-Kolumne von Ulrich B Wagner mit dem Titel „Me, myself and I – eine Reise in sich hinein und über sich hinaus„.

Heute: Der lange Abschied! Ein Versuch über das Vergessen…

=> in Gedenken für meinen Vater * 24. März 1928  † 27. August 2011

“In jedem Leben kommt der Augenblick, in dem die Zeit einen anderen Weg nimmt als man selbst. Man lässt die Mitwelt gehen“
(Roger Willemsen, Der Knacks)

Vergessen ist Teil unseres Lebens.

Schmerzhaft von jedem von uns in Klausuren, Prüfungen und im alltäglichen Leben schon erfahren. Schlüssel, Brieftaschen, wie von Zauberhand plötzlich verschwunden und unauffindbar. Wir martern unser Gedächtnis und finden doch nichts. Was bleibt ist eine große Leere und das magische Rätsel des Vergessens.

Unachtsamkeit, mangelnde Konzentration oder mangelndes Interesse, emotionale Unverbundenheit, all das führt bei gesunden Menschen häufig zum Vergessen. In der Regel werden Ereignisse in Abhängigkeit von ihrem emotionalen Gehalt vergessen. Dinge, die uns gleichgültig sind, werden schneller vergessen als solche, die starke Emotionen hervorrufen. Positive Erlebnisse und Ereignisse sorgen dafür, dass wir Dinge weniger schnell vergessen als bei gleich starken negativen Emotionen.

Würden wir von Zeit zu Zeit nicht einiges vergessen, wäre wohl auch kein Raum für das Neue. Wir wären buchstäblich Gefangene unserer Vergangenheit. Die alten Zeiten werden so zu den guten Zeiten, weil die neutralen und negativen Dinge selektiv zu Gunsten der positiven Erinnerungen vergessen werden.

Mit dem kontinuierlichen Anstieg der Lebenserwartung hat in den letzten Jahren jedoch eine neue Form des Vergessens unsere Lebenswirklichkeit drastisch verändert: Das Vergessen als Volkskrankheit, schlicht Demenz genannt.

Und in einer alternden Gesellschaft wie der unsrigen, wird Demenz wahrscheinlich zu einem Krankheitsbild, das jede Familie heimsucht. Derzeit leben schätzungsweise etwa 1,2 Millionen Menschen mit Demenz in Deutschland. Und jährlich erkranken ca. 250.000 Menschen neu. Bis zum Jahr 2050 wird sich diese Zahl der Demenzerkrankungen mehr als verdoppeln, weil der Anteil alter Menschen an der Gesamtbevölkerung weiter stark zunimmt.

Vor zwei Jahrzehnten noch in keinem medizinischen Lehrbuch verzeichnet, ist es heute bereits die Seuche einer ganzen Generation, jenes Altersleiden, das vor nichts und niemanden halt zu machen scheint.

Gestandenen Männern und Frauen versagt schleichend und unaufhaltsam das Gedächtnis. Aus Kommunikation und Sprache wird Stammeln, Ratlosigkeit und im weiteren Verlauf das große Schweigen.

Es gibt im Leben gewiss gnädigere Wege, sich selbst zu vergessen.

Liebgewordene Menschen verabschieden sich so, anfänglich fast unmerklich, im Laufe der Zeit jedoch immer schneller und drastischer, aus ihrer und unserer Lebenswirklichkeit.

Zurückzubleiben scheint eine Hülle aus Fleisch und Blut, in der die Zurückgelassenen verzweifelt in jedem Flattern der Augen, Zucken der Lider und Greifen der Hände den Menschen zu erhoffen suchen, den sie einmal kannten, bewunderten und liebten.

Was treibt sie an? Was fühlen, erkennen, erleiden diese in sich Eingeschlossenen? Es wird uns wohl immer ein Rätsel bleiben.

Es scheint eine triste, graue und dunkle Welt zu sein, in der nur von Zeit zu Zeit ein Funken Licht, eine Spur von Freude und Glück zu Besuch zu kommen scheint. Anfänglich, zu Beginn des Leidens noch schreckliche, marternde luizide Momente des sich Vergegenwärtigens, des schmerzhaften Bewusstwerdens des Verschwindens, um sofort und noch tiefer in der nicht selbst gewählten Welt des Vergessens von Neuem zu verschwinden. Gepeinigt von einem inneren Dämon der Ruhe- und Rastlosigkeit, der schmerzhafte Drang, sich auf den Weg zu machen, nach Hause, wo hin auch immer das auch sein mag, ein Weg- und Fortlaufen, eine drängende Bewegung, ein Aufstemmen gegen das Vergessen und Selbstvergessen, schließlich nur noch gebremst von der krankheitsbedingten Bewegungslosigkeit.

Von Tag zu Tag verlieren wir den geliebten Menschen mehr, verlieren den Draht und die Mittel, um in Kontakt und Austausch zu treten.

Und doch, in kurzen Momenten die alte Vertrautheit, ein kurzes Lächeln, das Halten der Hand, das Neigen des Kopfes, die von keinem Wort begleitete Bewegung der Lippen, ein schnelleres Atmen und ein Aufflackern der Augen.

Bis zuletzt verdienen diese Menschen unsere Achtung, unsere Anteilnahme, Zuneigung und Liebe.

Sie belohnen uns mit den leisen Gewichten der Welt.

Sie öffnen unsere lärmgeplagten Ohren für die Töne des Schweigens.

Sie lehren uns Demut und Ehrfurcht vor dem Vergessen.

Wenn sie schließlich erlöst werden, sterben sie nicht, sondern leben in unserer Erinnerung fort.

Ihr Ulrich B Wagner

Zum Autor:

Ulrich B. Wagner, Jahrgang 1967, studierte Psychologie, Soziologie und Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang von Goethe Universität in Frankfurt am Main. Er ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Kommunikation, Coaching und Managementberatung (ikcm) mit Sitz in Bad Homburg und Frankfurt am Main und gleichzeitig Dozent an der european school of design für Kommunikationstheorie sowie Werbe- und Konsumentenpsychologie.

Ulrich Wagner arbeitet als Managementberater und systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikations- und Rhetoriktrainings, Personalentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

Zu erreichen: via Website www.ikcm.de, via Mail uwagner@ikcm.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).

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