„Die Umweltzerstörung in Tibet interessiert niemanden in China“

Für "Brennpunkt Tibet" sprach Klemens Ludwig mit Franz Alt über die ökologische Situation in Tibet, die Umweltbewegung in China und die Rolle des Dalai Lama als „Lichtgestalt“ der Ökologiebewegung.

 

Brennpunkt Tibet: Herr Alt, Sie sind häufig in China und kennen auch Tibet aus eigener Anschauung. Wie stark ist das Umweltbewusstsein in China?

Franz Alt: Ganz allgemein kann ich sagen, dass sich in China im letzten Jahrzehnt ein hohes Umweltbewusstsein entwickelt hat. Bis in die obersten Parteispitzen hinein wird auf erneuerbare Energien gesetzt, und das ist nicht nur Theorie. Ein paar Eckdaten: In China gibt es fünfmal mehr Sonnenkollektoren als in der gesamten EU. In der Drei-Millionen-Metropole Kunming in Yunnan zum Beispiel befindet sich buchstäblich auf jedem Haus eine thermische Solaranlage. Von den Photovoltaikanlagen produziert China weltweit die Hälfte, ähnliches gilt inzwischen für die Nutzung der Windenergie. Dagegen spielt die Atomkraft eine untergeordnete Rolle, sie deckt nicht einmal zwei Prozent des Stromaufkommens und soll maximal auf vier Prozent ausgedehnt werden. Insgesamt strebt die chinesische Führung an, dass die Volksrepublik bis 2060 vollständig auf erneuerbare Energie umgestiegen ist.

 

Brennpunkt Tibet: Diese Entwicklung steht aber im krassen Gegensatz zu den weiträumigen Abholzungen und anderen ökologischen Zerstörungen in Tibet.

Franz Alt: Zweifellos, das wachsende ökologische Bewusstsein ist eine neue Entwicklung. Noch in den neunziger Jahren war die Stimmung ganz anders. Ich habe die Waldfriedhöfe im Osten Tibets mit eigenen Augen gesehen; die LKWs, die Tag und Nacht beladen mit Holz ins chinesische Tiefland gefahren sind. Damals war Tibet für die Chinesen nicht mehr als ein schier unerschöpfliches Rohstoffreservoir, in dem sie sich billig und ohne irgendwelche Konsequenzen  bedienen konnten. Das dem nicht sie ist, haben sie aber bald am eigenen Leibe zu spüren bekommen.

 

Brennpunkt Tibet: Sie meinen die gigantischen Überschwemmungen im Mittellauf des Yangtse 1996?

Franz Alt: Ja, diese Katastrophe mit womöglich 10.000 Toten war nur eine logische Konsequenz aus dem Vorgehen in Tibet. Wer Wald abholzt, bekommt ein Wasserproblem, das ist eine Art Naturgesetz, dem sich auch die Chinesen beugen mussten. Da sie von dem Ausmaß der Zerstörungen selbst überrascht waren, sind sie auf ihre Art von einem Extrem ins andere verfallen und haben Abholzungen bei Todesstrafe verboten. Außerdem haben sie mit Wiederaufforstungsprogrammen begonnen, doch derartige Zerstörungen lassen sich nicht einfach durch Wiederaufforstung ungeschehen machen.

 

Brennpunkt Tibet: Kann man sagen, dass die Volksrepublik und ihre Repräsentanten seitdem auch für die ökologischen Probleme in Tibet sensibler geworden sind?

Franz Alt: So einfach ist es nicht. Die Umweltzerstörung in Tibet interessiert isoliert betrachtet niemanden in China. Die Chinesen interessieren sich nur für die Konsequenzen, die sie selbst zu tragen haben, und zumindest die Klügeren unter ihnen wissen inzwischen, dass alles, was dort geschieht, zu ihnen zurückkommt. Auf der Basis gibt es eine gewisse Sensibilisierung für die Probleme in Tibet.

 

Brennpunkt Tibet: Wo sehen Sie ungeachtet der wachsenden Sensibilisierung die größten Schwierigkeiten für Tibet?

Franz Alt: Tibets ökologische Tragik ist, dass zwei gravierende Probleme zusammenkommen, ein hausgemachtes und ein globales. Es ist allgemein bekannt, dass die fünf größten Flüsse Asien im tibetischen Hochplateau entspringen, die etwa zwei Milliarden Menschen mit Frischwasser versorgen. Sie werden vor allem durch Gletscher gespeist. Auch wenn die Abholzungen gestoppt sind, gibt es noch keine Entwarnung, denn die Volksrepublik sieht in den Flüssen ein riesiges Energiereservoir, das sie sich durch den Bau von Staudämmen nutzbar macht. Staudämme führen jedoch zur Stagnierung der Flüsse, Fischbestände und das gesamte Ökosystem im Einzugsgebiet sterben.Das globale Problem ist der Klimawandel. Auch wenn die Gletscherschmelze im Himalaya nicht so dramatisch voranschreitet, wie zunächst prognostiziert, kann das Faktum an sich nicht geleugnet werden. Das heißt, wenn der Klimawandel nicht gestoppt wird und die Gletscher dahinschmelzen, gibt es langfristig ein riesiges Wasserproblem für Tibet sowie ganz Süd- und Ostasien. Wasser ist nun einmal nicht erneuerbar, und Folgen werden gravierend sein, bis hin zu brutalen Verteilungskämpfen um das wertvolle Gut.

 

Brennpunkt Tibet: Ist Umweltpolitik in China in erster Linie eine Angelegenheit der Partei, oder kann man auch von einer eigenständigen Ökologiebewegung sprechen?

Franz Alt: Es gibt eine starke Umweltbewegung in China, die sehr pragmatisch orientiert und diplomatisch ist. Dazu zählt auch ein Ableger von Greenpeace. Diese Gruppen decken lokale Umweltsünden auf und um zu erreichen, dass sich etwas ändert, berufen sie sich auf die Partei und deren Bekenntnis zu einer ökologischen Politik. Die KP selbst hat Zahlen veröffentlicht, wonach es allein im Jahre 2008 zu 86.000 Aufständen und Protesten im ganzen Land gekommen ist. In vielen Fällen waren Umweltverbrechen die Ursache. Wenn das Trinkwasser verunreinigt und ungenießbar ist, oder wenn Kinder sterben, begehren die Menschen auf, und die Ökologie wird zur Machtfrage. Das weiß die KP.

 

Brennpunkt Tibet:  Gibt es bei Umweltverbrechen konkrete Sanktionsmaßnahmen im großen Maßstab, oder versucht die Führung die Lage durch die demonstrative Bestrafung von ein paar Sündenböcken zu beruhigen, wie im Falle der durch Chemikalien verseuchten Milchprodukte, ohne in der Substanz etwas zu verändern?

Franz Alt: Es ist die Frage, was man darunter versteht. Natürlich stellt die KP ihren Machtanspruch nicht in Frage, aber die Sanktionen gegen Umweltsünder sind weit mehr als nur ein paar demonstrative Aktionen zur Beruhigung der Bevölkerung. Die Vergiftung der Flüsse durch Chemiefirmen zum Beispiel ist ein großes Thema im Land. Aufgrund des öffentlichen Drucks wurden in den letzten Jahren Tausende von Chemiefabriken geschlossen. Auch die Folgen von Kohlesmog haben eine breite Debatte ausgelöst. Im Jahr 2008 sollen 800.000 Menschen daran gestorben sein.Die Regierung ist in ökologischen Fragen auch deshalb sensibel, weil sie aus dem Beispiel der Sowjetunion gelernt hat. Ex-Präsident Gorbatschow hat mir selbst einmal gesagt, das Ende der Sowjetunion wurde nicht durch die nationale Frage oder die Demokratisierung in Osteuropa herbeigeführt, sondern durch Tschernobyl. Durch den Unfall und das schlechte Krisenmanagement hatte die Führung jeden Kredit verspielt. Die Bevölkerung hat ihr nichts mehr geglaubt. So etwas ist in Peking bekannt und dort will man es nicht so weit kommen lassen.

 

Brennpunkt Tibet: Auch in Tibet gibt es immer wieder Proteste gegen die Rohstoffausbeutung, die verheerende Auswirkungen auf die Umwelt hat. Bisweilen sind solche Proteste sogar erfolgreich. Könnte es an solch konkreten Punkten eine Koalition von Chinesen und Tibetern geben?

Franz Alt: Das ist nicht so einfach, denn man kann mit Chinesen selten rational über Tibet diskutieren;

das betrifft natürlich in erster Linie die KP-Funktionäre, aber nicht nur sie. Der Dalai Lama hat mir vor 15 Jahren einmal erzählt, er wisse, dass der damalige Bundeskanzler Kohl in Peking darüber verhandelt habe, ob deutscher Atommüll in Tibet gelagert werden könnte. Nicht nur chinesische, auch deutsche Spitzenpolitiker scheuen gelegentlich vor keiner ökologischen Schandtat zurück.

 

Brennpunkt Tibet: Der Dalai Lama hofft auf eine allmähliche Veränderung in China, die vor allem durch die verstärkte Hinwendung der Menschen zur Religion begründet ist. Teilen Sie diesen Optimismus?

Franz Alt: Grundsätzlich teile ich die Einschätzung, doch muss man sich dabei im klaren sein, dass es ein sehr langfristiger Prozess sein wird. Noch ist das Auto das Statussymbol schlechthin in China. Als ich 1977 das erste Mal in Peking war, gab es sechsspurige Fahrradwege, die völlig verstopft waren und eine weitgehend leere Autospur. Heute gibt es völlig verstopfte sechsspurige Autostraßen und einen weitgehend leerer Fahrradstreifen. Dabei ist das Potential noch lange nicht ausgeschöpft. In China kommen auf 1.000 Menschen 25 Autos, in Deutschland 600.Aber wenn China einmal ökonomisch befriedigt ist, werden die Menschen andere Fragen stellen, religiöse, spirituelle. Die menschliche Seele will mehr als nur ein neues Auto oder andere materielle Güter.

 

Brennpunkt Tibet: Kann Einfluss von außen den Prozess womöglich beschleunigen?

Franz Alt: Das ist sehr schwierig, weil jede Anregung von außen sofort als Intervention und Einmischung in innere Angelegenheiten aufgefasst wird und Erinnerungen an die kolonialen Erfahrungen des 19. Jahrhunderts wachruft; übrigens nicht nur bei den Funktionären der KP, sondern auch der einfachen Bevölkerung, zumindest unter den Gebildeten. Es muss also sehr subtil geschehen. Eine gute Basis ist das Renommee das Dalai Lama. Er wird in weiten Teilen der Welt als Vertreter einer ökologisch sehr sensiblen Religion angesehen, ja man kann sagen, er ist eine Lichtgestalt der Ökoszene, weit mehr und weit konkreter als der Papst. Sätze  wie „Ohne den Menschen ginge es der Erde besser“, was er einmal in einer meiner Sendungen gesagt hat,  bringen viele zum Nachdenken.

 

Quelle: © Franz Alt 2010

 

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