Forever young?! Jugendwahn und junger Wein

… die monatliche Genusskolumne "GENIUS LOCI: infinito marche – unendliche Marken" aus der italienischen Region Marken von Paul Nauwerk (Sommelier) und Ulrich B Wagner.

 

Nichts gewinnt so sehr durch das Alter
wie Brennholz, Wein, Freundschaften und Bücher

                              (Francis Bacon, englischer Staatsmann und Philosoph)

 

In unserer aktuelle Kolumne gehen unsere zwei Weingenießer, der eine Laie, der andere Fachmann aus Leidenschaft, an einem vergnüglichen Maiabend und einigen Gläsern köstlichem jungen Weißwein aus der Passerina – Traube aus der Weinregion Marken in Italien der Frage nach:  Was hat es eigentlich auf sich mit dem in den letzten Jahren immer mehr verbreiteten Hype um den jungen Wein. 

Schöne Frauen, an denen der Zahn der Zeit scheinbar spurlos vorübergeht, gab es zu allen Zeiten. Doch Mütter, die sich kleiden und geben wie ihre Töchter sind ein Phänomen der letzten zwei Jahrzehnte. Jungsein wurde so in unserer Gesellschaft der neue Götze, den es anzubeten gilt. Doch nunmehr hat sich der grassierende Jugendlichkeitswahn auch verstärkt in der Weinwelt breit gemacht. Wieso eigentlich?

Unsere österreichischen Nachbarn machten es uns seit längerem vor. Dort trinkt und verlangt man lange schon nach dem„Heurigen“, also dem frischen, jungen Wein, des „aktuellen“ Jahrgangs. Also heuer, im Jahr Zweizwölf, nach dem Zweielfer!

Nun ist in der Tat für die je spezifische Trinkgelegenheit, die licht- und temperaturabhängige Terrassenstimmung oder so manche Spargelbegleitung ein heuriger Weißwein oft die beste Wahl; denn die jungen Weißweine sind meist spritziger, frischer, fruchtiger, man könnte meinen jugendlicher! Das entspricht auch ohne Frage in der Regel der Stimmung, die viele mit dem Wein und dem Schwips unterstreichen möchten.

Welchen Folgen hat  jedoch die Tendenz, dass „alle Welt“ immer jüngere Weine verlangt.

Oder anders ausgedrückt, wie kam es zu diesem Jugendlichkeitsweinwahn, der folgenden Haken hat, dass die Weine (wir konzentrieren uns heute bewusst auf die Weißweine und lassen die Roten mal außen vor) immer jünger getrunken werden müssen.

Salopp ausgedrückt hat „der Weinmarkt“ dies für uns entschieden. Und hinter dem Weinmarkt von heute steckt nun mal die so genannte „Schwarmintelligenz“ von gestern.

Am Anfang dieser Fehlentwicklung stand der Edelstahltank mit seinen Vor – und Nachteilen sowie eine Weinwelt die noch erzogen werden konnte.

Man rufe es sich einmal vor das innere Auge: Das Ende einer süßen, versunkenen Weinwelt, cuvéetiert aus Tschernobyl und Glykol; doch flugs darauf, wie Phönix aus der Weinasche, das österreichische Weinwunder und dann das deutsche hinterher, mit immer transparenteren, trockenen Weißweinen.

Relativ früh abgefüllte Weine, Heurige, waren aufgrund einer (vor Jahrzehnten noch) neuen Kellereitechnik viel ansprechender geworden, klarer, fruchtbetonter, auch dropsiger und kohlensäurehaltiger als früher.

 

Das war toll und sollte mit Macht zur Mode gemacht werden. Diese Weine schmecken jung sehr gut und sollen jung getrunken werden. Allein, sie halten meistens auch nicht lange. Heute wächst jene von den Winzern selbst angestoßene Entwicklung diesen, wie Goethes Zauberlehrling über den Kopf; denn die Botschaft ist beim Kunden angekommen:

Wein soll so jung getrunken und so früh abgefüllt werden wie möglich.

Damit ist folgender „Teufelskreis“ bzw. Heurigenstrudel in der Weinwelt entstanden. Es werden immer mehr Weißweine produziert, die nicht länger als ein Jahr zu genießen sind. Das spricht sich unter Zechern und Genießern nun mal rum und so werden ältere Weine aus Vorsicht und Selbstschutz kaum mehr verlangt. Da somit lagerungsfähige Weine immer seltener verlangt werden, werden sie auch immer seltener produziert. Dabei galt Lagerungsfähigkeit in „der guten alten“ Weinzeit als das Qualitätskriterium schlechthin.

Aber heute sind ausgereifte Weißweine, die zwar nach Reife schmecken, denen Reife aber auch gut tut, leider aus der Mode.

Doch gibt es natürlich, wenn auch seltener geworden, noch die Weißweine, die länger als ein Jahr den Genuss halten, den sie versprechen. Den Zweizehner aus heuriger Prinzipientreue deshalb grundsätzlich zu verschmähen, dürfte also mitunter ein Fehler sein.

Falls Sie als Konsument mitgeholfen haben sollten, diese einseitige Fehlentwicklung nach Kräften zu unterstützen, könnten wir Ihr Gewissen ein wenig erleichtern. Denn erstens können Sie natürlich heuer noch gute, gereifte Weißweine probieren.

Aus unserer Sicht, von den italienischen Marken aus gesprochen: Probieren Sie zum Beispiel den Zweizehner Vyo von Giolella, ein vollmundig, cremiger Chardonnay. Auch das ein Wein aus dem Edelstahltank, mit einem Honigton, der angenehm und ausgereift ist, der aber heuer bestimmt noch nicht überreif ist und bestimmt noch seine Zeit hat.

Und zweitens: Wie eingangs gesagt, trifft die Schuld am Heurigenphänomen vor allem die Österreicher 🙂

In diesem Sinne wünschen wir Ihnen einen frischen Weingenuss und sonnige Maitage.

Ihr Paul Nauwerk und Ulrich B Wagner

 

Zu den beiden Autoren:

Paul Nauwerk, Jahrgang 1971, geboren in Hamburg, studierte Philosophie, Germanistik und Anglistik in Köln. Über einen Studentenjob im Weinfachhandel kam er in die Weinbranche. In Geisenheim erwarb er das internationale WSET Honours Diploma und wurde in den Club der Weinakademiker aufgenommen. Er ist Mitglied der Deutschen Sommelierunion. Seit 2005 arbeitet er als selbständiger Weinberater, Referent und Weintester. Seit 2011 ist Paul Nauwerk zudem unabhängiger Partner von Genius Loci.

Ulrich B. Wagner, Jahrgang 1967, studierte Psychologie, Soziologie und Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang von Goethe Universität in Frankfurt am Main. Er ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Kommunikation, Coaching und Managementberatung (ikcm) mit Sitz in Bad Homburg und Frankfurt am Main und gleichzeitig Dozent an der european school of design für Kommunikationstheorie sowie Werbe- und Konsumentenpsychologie. Zugleich ist er der Marketing- und Kommunikationsberater von Genius Loci.

Genius Loci ist zu erreichen: via Website, via Mail, AGITANO-Unternehmensprofil und Facebook.

 

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