frisch, fromm, fröhlich, frei: Versuch über das Leben im Selbstverständlichen

Zeit und Feuer: Zwei Größen, die uns seit jeher mit Ehrfurcht erfüllen, uns Angst machen, uns faszinieren und zutiefst berühren. Wenige Phänomene vermögen es besser, uns in Ketten zu legen, wenn wir dies zulassen. Unser Kolumnist Ulrich B Wagner sieht sich im folgenden Wort zum Freitag genau diese beiden Mysterien genauer an und zeigt bedeutende Effekte auf uns als Einzelne auf, deren Wirkungsweise – und schiere Macht – wir uns selbst kaum zuzugeben erlauben. Doch wie selbstverständlich ist das Leben im Selbstverständlichen wirklich?

Es war einmal ein Mann, der wollte die Zeit anhalten
So ging er hinaus vor die Hügel dieser Stadt
und rief Zeit steh still.
Da kam ein Reiter des Weges und sagte zu ihm
Wenn dies dein Wunsch ist, so sei er dir erfüllt.
Und er zog seinen Degen
und stach ihm dem Mann in die Brust.
Zu dem Toten sagte er so dann:
Es gibt nur eine Zeit, Deine Zeit
und ihr Wesen ist Wandlung
Wer die Veränderung nicht will,
der will auch nicht das Leben.
Dann ritt er weiter.

Georg Danzer, Prolog zu: Die Ruhe vor dem Sturm

Welche Fragen stellen wir uns?

Ich schreibe es heute Abend in mein Tagebuch, steht es irgendwo in den Weiten des Bildnis des Dorian Gray.

WAS?

Dass ein gebranntes Kind das Feuer liebt. Ich bin nicht einmal versengt. Meine Flügel sind unberührt. Du benutzt sie zu allem, nur nicht zum Fliehen. Der Mut ist von den Männern zu den Frauen übergegangen. Das ist ein neues Erlebnis für uns.

Long time ago.
Alles selbstverständlich!
Alles schon einmal gedacht!
Bekannt! Gelesen und weggelegt.

Aber auch verstanden? Bild gewordene Erkenntnis des Bildlosen?

Anspruch auch des eigenen Seins?

Ist es wirklich noch da, dieses Gefühl, dieses Brennen, diese Freude, anders zu sein? Anders als die Alten, die Anderen, die Gesättigten, die Angepassten, die Mitläufer, die Brüder und Schwester Eichmanns?

Im Grunde, vom Grunde herauf, den Abgründen, den Begründungen des Nichts, des Nichtstuns, des Rückzugs ins Vergangene, ins Herkünftige, des Vergangenen, des so nie Erlebten, des Übertragenen und Verklärten ist es wohl auch keine passende Frage?

Der Zeitpunkt der Freiheit

Frei zu sein, nicht nur gefühlt, es auch zu sein mit Haut und Haaren?
Zu leben um zu gewinnen und falls nicht, zu lernen, auf den Umrundungen der Lebensbahn, das Gelernte in das Gewohnte zu überführen, um dann, im Moment des Einen bereit zu sein, nicht bloß dabei zu sein, sondern Teil des Neuen, des Ganzen und nicht bloßer Rand, Randgruppe, Zurückgelassene, aus dem Hier und Jetzt Gefallene, Schatten und Umschattung des Lebens?

Welchem Leben?
Dem Leben nach dem Tod?
Selbstverständlich!
Doch gibt es dies überhaupt?

Kein Fragen und Erfragen in solchen brennenden Zeiten, unserer Zeit, die das Neue – nicht die Veränderung, sondern das Veränderte – nicht nur schon lange in sich trägt, sondern schon Folge, Abfolge und Ausdruck dessen ist, was wir immer noch erwarten, des Zukünftigen, des erst Kommenden und als Entschuldigung unseres Wartens und Abwartens für selbstverständlich halten, aber nicht greifen, aufgreifen, begreifen und greifbar machen können für uns, für uns Alle, da es im Selbstverständlichen verlorenging.

Die Untätigkeit bleibt gesellschaftstauglich

Geschieht alles also doch nur mit uns? Lassen wir es nur geschehen? Haben wir vielleicht gar keine Wahl?

Ist es überhaupt noch unsere freie Wahl, das Zukünftige, das Morgige, das im Grunde aber schon längst Gegenwärtige, das für uns als Unfreiheit, als Bedrohung einer vergangenen Freiheit, die wie durch Gottes Fügung selbstverständlich war und es immer noch zu sein glaubt? Wer weiß?

Bloße Rechtfertigung des Noch-nicht-Tuns, des Nichts-Tun, des Tuns an sich, des Schweigens und Verharrens. Des Rückwärtigen, des Bekannten, nicht im heute, nicht in Echtzeit. Was ist auch schon die Zeit?

Gebrannte Kinder scheuen das Feuer. Tun sie das wirklich?

Sind sie vielleicht gar nicht gebrannt, sondern verbrannt, verbrannt von den geistigen Vätern und Ur-Vätern des Struwwelpeters, in der Erzählung, durch das als Realität erzählt bekommene, das Nacherzählte und die Glorifizierung von banalen Sentimentalitäten als des Geschehenen, um es zu lernen und vielleicht selbst zu probieren.

Verbrannt für das Leben im Hier und Jetzt. Kinder des Lebens nach dem Tod, heute, morgen und morgen, wenn sie auf dem Sterbebett liegen und in einem einzigen Moment des Abgelaufenen begreifen, vielmehr erkennen, dass sie bereits starben, als wir sie als selbstverständlich erachteten.

Lesarten des Feuers

Abgelebtes, sinnloses Leben aus purer Angst vor dem Tod, der sie jedoch in ihrem Glauben an das Selbstverständliche, Verbrannte schon längst vom Leben, der Ergreifung des Feuers und der Überschreitung des für möglich geglaubten, des Selbstverständlichen und der Wiedererlangung ihres Feuers, ihres Lebensfeuers abtrennte.
Unfreie, in Unfreiheit gehaltene, die die Revolution, die Freiheitskämpfer zwar auf ihren T-Shirts stolz auf der Brust tragen, ihre nicht selbst errungene, sondern qua Geburt zu ihrem selbstverständlichen Besitz übertragene Freiheit, daher auch nur im Außen und durch das Außen bedroht fühlen, ohne zu bemerken, dass das, was sie bedroht fühlen, in ihrer Selbstverständlichkeit schon lange nicht nur verlorenging, sondern sie selbst: nicht nur als Individuum, sondern als Ganzes, nicht bloß als Teil des Ganzen.

Gebrannte Kinder scheuen das Feuer oder lieben sie es vielleicht doch noch?

Sie trauen sich nur nicht, die Wahrheit zu sagen.

Gedankenwege im Leben im Selbstverständlichen

Albert Einstein sagte einmal: Es gibt zwei Arten sein Leben zu leben: entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder so, als wäre alles eines. Ich glaube an Letzteres.

Auf alle Fälle hält es lebendig und frei.
Frisch, fromm, fröhlich, frei und in ihrer Lebendigkeit unsterblich.
Frei in ihrem Glauben an das unmöglich Geglaubte:

Auch wenn man sie dafür selbst erst einmal befreien muss.

Sie von ihrem Podest herunterholen muss, damit sie wieder lebendig und zur Bedrohung des Selbstverständlichen, der Selbstverständlichkeit der Freiheit werden oder wie es der Bruder in der erst kürzlich erschienenen ‚Biografie des Bruders von Che Guevara, Juan Martin Guevera, ausdrückte:

Man muss ihn von diesem Podest herunterholen, muss diese zur Bronzestatue erstarrte Figur wieder mit Leben füllen, damit seine Botschaft lebendig wird.
Che hätte darauf gespuckt, zum Idol zu werden.

Ihr

Ulrich B Wagner

Kennen Sie schon die Leinwände von Inspiring Art?