Ich verstehe die Frage jetzt nicht … blühe deutsches Jammertal

[Bild: Oliver Pocher / YouTube]

… (mit Videos) aus der wöchentlichen Kolumne „QUERGEDACHT & QUERGEWORTET  – Das Wort zum Freitag“ von Ulrich B Wagner. Nachdem Sie vergangenen Beitrag mehr über „ … das Hohelied vom Schein und Sein“ erfahren haben, geht es heute um die Deutschen – und wie diese Gefahr laufen vor lauter Jammern ihr Leben zu vergessen.

Der Lebensstandard ist daran abzulesen,
auf welchem Niveau die Menschen klagen.
Ernst Reinhardt

Über die Vergangenheit jammern, von der Zukunft träumen und die Gegenwart verschlafen: das ist der Bankrott des Lebens.
Josef Cascales

Denke ich an Deutschland in der Nacht bin ich um den Schlaf gebracht …“, schrieb unser großer deutscher Nationaldichter, Heinrich Heine, die wohl am missverstandesten Zeilen aus dem französischen Exil. Was sehnsuchtsvoll, aus Heimweh nach dem geliebten Vaterland niedergeschrieben wurde, entwickelte sich aus dem Kontext gerissen zu dem Leitsatz des deutschen Jammerns und Wehklagens über alles und nichts.

The big fucking german

Ginge es um die hohe Kunst des Lamentierens und nicht um Fußballspielen wären wir schon der unangefochtene Weltmeister dieser hohen Kunst des Miesepeterns.

Es war weit nach Mitternacht, über 120 Minuten in Brasilien gespielt und Deutschland hatte sich, wenn auch erst sehr spät ins Viertelfinale gegen Frankreich am heutigen Freitag geballert. Einverstanden, dass was wir sahen, sah nicht nur anstrengend aus, sondern war es auch mit Sicherheit. Der eine oder andere muss sich mit Gewissheit auch die eine oder andere Frage stellen lassen, so wie unser Newcomer  Mustafi, der extra für das Spiel mit dem Ramadan ausgesetzt hat und für den DIE ZEIT nur die folgenden Worte fand: „Für Spitzensportler, Schwangere und Kranke ist das angeblich möglich. Nun wird der Zentralrat der Muslime rätseln müssen, welche dieser Gruppen Mustafi mit seinem Auftritt für sich in Anspruch nimmt“ (Paul Hofmann in DIE ZEIT online vom 01.07.2014).

Unser Per Mertesacker, den die englischen Fans liebevoll als „The big fucking german“ getauft haben, reagierte nach anstrengenden über zwei Stunden in der Hitze Brasiliens gegen bissige Algerier jedoch mit Recht ein wenig gereizt auf die Fragen des ZDF Reporters. So motzte er sich im Rahmen des schon nach wenigen Stunden auf YouTube zum Kultinterview mutierten Gesprächs im direkten Anschluss an das Spiel, Frust, Zorn und Anstrengung aus Leib und Seele.

Video: Per Mertesacker im ZDF-Interview nach dem Algerien-Spiel (30.06.2014)

(Quelle: Paul Heyman / YouTube)

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel wie es der legendäre Sepp Herberger es so schön auf den Punkt brachte. Deutschland ist weiter. Punkt, Schluss aus und es ist gut so.

Es liegt jedoch in unserer deutschen Mentalität, dass es dann doch nicht reicht. Das Glas ist immer halb leer. Ergebnisse reichen nicht, sie sollen auch noch durch Schönheit, Eleganz und eineindeutiger Überlegenheit gekrönt sein. Wir wehklagen, jammern und gehen gesenkten Hauptes durch das Leben. Vor lauter Jammern vergessen wir dann auch noch das Leben und vielleicht auch die Möglichkeit des Nachfragens und Reflektierens an Stellen und zu Gelegenheiten, die dies wirklich verdient hätten.

Es ist Dienstag und der Einkaufswagen ist voll

Oliver Pochers Antwort auf Mertesackers Wutrede ist nicht nur als Parodie ein Knaller, sondern steckt auch, wenn auch unbewusst, den Finger in ein Thema, das nicht nur mich immer wieder aufs Neue erstaunt, sondern auch erzürnt.

Ja, ganz schön viel eingekauft, blafft der imaginäre Reporter, den Einkaufwagen im Deutschlandtrikot vor sich her schiebend an. Worauf unser Oli in bester Mertesacker Manier zurück blafft: Naja gut, aber ich verstehe die Frage jetzt nicht, was den Reporter nur zu dem Satz verleidet: Naja, es ist Dienstag und der Einkaufswagen ist voll …

Video: Das Per Mertesacker Interview

(Quelle: Oliver Pocher / YouTube)

Was soll auch ein voller Einkaufswagen an einem stinknormalen Dienstag? Eine Frage, die wahrscheinlich auch die weltfremden Erbsenzähler aus dem Statistischen Bundesamt sofort die Stirn runzeln und vor Ratlosigkeit die Selbige auf die Tastatur sinken lässt.

Wir jammern und vor lauter Gejammer, trauen wir unseren eigenen Gefühlen nicht über den Weg. Das ganze Leben ist nämlich nicht nur ein großes Spiel, sondern auch eine riesige Verarsche, wenn man hinzusehen vermag.

Führend in diesen Belangen sind hierbei die 2.940 Mitarbeiter des Statistischen Bundesamts. Einer Einrichtung, die sich der deutsche Staat extra zur Verarschung seiner Bürger gegönnt hat, wenn es um Fragen von Preissteigerung und Kaufkraftverlust geht. Jene Damen und Herren vermelden allmonatlich die so genannte Teuerungsrate, die dem einen oder anderen auch als Inflationsrate geläufig ist und aus der sich dann wiederum der Verbraucherpreisindex ableitet.

Die gefühlte Inflation ist die wahre Inflation

Eine äußerst komplexe und mit Sicherheit die manipulativste volkswirtschaftliche Kennzahl. Denn diese Manipulation dient einzig und alleine dem Zweck sich auf Kosten der Sparer und Steuerschuldner immer wieder aufs Neue in vollster Sorglosigkeit neu verschulden zu können. Unsere gefühlte Inflation ist nämlich mit Gewissheit die wahre Inflation. Egal was uns die Hütchenspieler aus dem schönen Wiesbaden auch erzählen mögen. Wobei wir auch wieder bei Olis vollem diensttäglichen Einkaufswagen sind.

Zur Berechnung der Preissteigerungsrate haben unsere Zauberkünstler nämlich einen virtuellen Einkaufswagen gebastelt, in den alles hineingelegt wird oder auch nicht, was man so zum Leben braucht. Essen, Wohnen, Energie, das eine oder andere für die Hygiene und einiges mehr.

Wir sollten endlich aufhören zu Jammern

Im magischen virtuellen Einkaufswagen unserer Zahlenakrobaten sind per Ende 2013 Nahrungsmittel mit 10,3 Prozent und Stromkosten mit 2,6 Prozent veranschlagt. Entdecken Sie nun das Kaninchen im Zauberzylinder und ist Ihr Bedarf an Lebensmitteln und Ihr Stromverbrauch Ende des Monats gar auch wieder höher ausgefallen?

Verdammt nochmal, warum ist Ihr Einkaufswagen dienstags schon so voll oder andersherum gefragt. Warum essen Sie eigentlich soviel? Machen Sie doch lieber ganzjährig Ramadan, Ihre Figur wird es Ihnen danken und Ihr Geist wahrscheinlich auch, wie es einige asketische Mystiker eindrucksvoll unter Beweis stellen. Zu guter Letzt kaufen Sie sich und Ihren Lieben doch ein paar Nachtsichtgeräte oder zünden Sie einfach mal wieder, wie in den guten alten Studentenzeiten, einfach wieder ein paar Teelichter an und gehen Sie doch allabendlich wieder zur guten alten Hausmusik über. Ihre Stromrechnung wird es Ihnen auf alle Fälle danken.

Wir sollten endlich aufhören zu Jammern und lieber nicht allem Glauben, was unsere Volksvertreter uns so weismachen wollen. Denn wie mein alter Statistikprofessor immer sagte: Traue nur einer Statistik, die Du selbst gefälscht hast.

Ihr Ulrich B Wagner

Über Ulrich B Wagner:

Ulrich B Wagner
(Foto: © Ulrich B. Wagner)

Ulrich B Wagner (Jahrgang 1967) ist Diplom-Soziologe, Psychologe, Schriftsteller und Kolumnist. Sein Studium der Soziologie, Psychologie & Rechtswissenschaften absolvierte er an der Johann Wolfgang von Goethe Universität, Frankfurt am Main. Zusammen mit Professor Karl-Otto Hondrich arbeitete er am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an einer Reihe von Forschungsprojekten zum Thema  „Sozialer und kultureller Wandel“.

Ulrich B Wagner ist Dozent an der european school of design in Frankfurt am Main mit dem Schwerpunkt  Kommunikationstheorie, Werbe- und Konsumentenpsychologie, sowie Soziologie und kultureller Wandel und arbeitet als Berater sowie systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikation und Konzeptentwicklung, Begleitung von
Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

Zu erreichen: via Mail ulrich@ulrichbwagner.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).

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