IMK: Positive Beschäftigungsentwicklung kein Effekt der Agenda 2010

Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung: Positive Beschäftigungsentwicklung kein Effekt der Agenda 2010 / Gute Konjunktur und interne Flexibilität entscheidend

Die Erwerbstätigkeit in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren sehr positiv entwickelt. Ist das ein Beweis für die Wirksamkeit der Agenda 2010? Nein – eine genaue Analyse der Daten liefert dafür keine Indizien, resümieren Forscher des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung.

Haben sich die Arbeitsmarktreformen der Agenda zehn Jahre nach ihrer Ankündigung und gut acht Jahre nach dem Inkrafttreten von Hartz IV als erfolgreich erwiesen? Auf den ersten Blick könnte man das annehmen: Die Zahl der Erwerbstätigen erreicht Rekordstände und ist weit höher als vor einer Dekade. Doch liegt das wirklich an den Maßnahmen, die der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder am 14. März 2003 in seiner Agenda-Rede skizziert hat? Gustav Horn und Alexander Herzog-Stein, Wissenschaftlicher Direktor und Arbeitsmarktexperte des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung, haben die Arbeitsmarktentwicklung vor und nach den Arbeitsmarktreformen genau untersucht.* Ihr Ergebnis: Hartz & Co. haben weder das Wachstum noch die Beschäftigung erkennbar beeinflusst. Weitaus bedeutsamer war die gelungene Stabilisierungspolitik während der Wirtschaftskrise 2008/2009. Die wichtigsten Befunde:

Erwerbstätigenzahl gestiegen, doch Arbeitsvolumen stagniert

41,6 Millionen Menschen waren im Jahresdurchschnitt 2012 als Arbeitnehmer oder Selbständige erwerbstätig. Das waren knapp 2,7 Millionen mehr als 2003. Doch der Wachstumstrend begann keineswegs in den Agenda-Jahren, sondern schon viel früher, zeigen die Forscher. Schaut man auf die gesamte Phase seit der deutschen Vereinigung, so war der Tiefststand bereits im Jahr 1994 mit rund 37,5 Millionen Erwerbstätigen erreicht. Seitdem stieg die Zahl – mit konjunkturellen Schwankungen – an. Gleichzeitig veränderte sich aber die Struktur der Erwerbstätigkeit: Die Vollzeitbeschäftigung ging spürbar zurück, Teilzeitstellen und selbständige Tätigkeiten nahmen zu.

Folge dieses Wandels: Das Arbeitsvolumen, also die Gesamtzahl der geleisteten Arbeitsstunden, lag 2012 kaum höher als 1994. „Gesamtwirtschaftlich fand also eine Umverteilung der Arbeit auf eine deutlich größere Anzahl von Erwerbstätigen durch Arbeitszeitverkürzung statt“, so Horn und Herzog-Stein. Unter dem Strich erweise sich der Einfluss der Strukturreformen auf die Erwerbstätigenentwicklung damit als klein, fassen die Ökonomen zusammen. Zudem relativiere die Stagnation beim Arbeitsvolumen die eindrucksvolle Entwicklung der Erwerbstätigenzahlen ganz erheblich. „Qualitativ ist das Bild äußerst durchwachsen“, schreiben die Forscher. „Atypische Beschäftigung wie auch die Niedriglohnbeschäftigung haben stark zugenommen und sich auf einem vorher nicht gekannten Niveau eingependelt.“

Agenda 2010: Keine stärkere Erwerbstätigenentwicklung nach Hartz-Reformen

Um ihre Befunde vertieft gegen zu prüfen, verglichen die Wissenschaftler in einem zweiten Schritt die Konjunkturzyklen seit Inkrafttreten der Agenda-Reformen mit dem Zyklus unmittelbar davor. Vorteil des Verfahrens, welches das IMK bereits mehrfach angewandt hat: Da jeder Zyklus aus einem Auf- und dem darauf folgenden Abschwung besteht, lässt sich mit einem solchen Abgleich der Einfluss der Konjunktur auf die Erwerbstätigenentwicklung auf eine vergleichbare Basis stellen, etwa, indem man die unterschiedliche zeitliche Dauer der einzelnen Phasen herausrechnet. Die Auswirkungen einer strukturellen Änderung wie der Hartz-Reformen müsste daher im Zyklenvergleich deutlich sichtbar werden, so die Wissenschaftler: „Jenseits der Konjunktur müsste die Arbeitsmarktentwicklung nach den Reformen signifikant besser sein als zuvor, wenn diese als beschäftigungspolitischer Erfolg gelten soll.“

Für die drei Konjunkturzyklen, die von 1999 bis 2005, 2001 bis 2009 und von 2009 bis heute reich(t)en, beobachten Horn und Stein jedoch keinen Positiv-Effekt. Eher im Gegenteil: Wenn die unterschiedliche Dauer der jeweiligen Aufschwünge rechnerisch berücksichtigt wird, stieg die Beschäftigung im Zyklus vor den Hartz-Reformen ein wenig stärker an als in den beiden Durchgängen danach. Das lässt sich beispielsweise an der Beschäftigungsintensivität ablesen – darunter versteht man die prozentuale Veränderung des Erwerbstätigenniveaus, wenn die Wirtschaft um ein Prozent wächst. Sie lag im Aufschwung vor der Agenda geringfügig höher als in den beiden Nach-Agenda- Aufschwüngen. Die positive Beschäftigungsentwicklung sei also auf die Konjunktur zurückzuführen und nicht auf strukturelle Änderungen, so Horn und Herzog-Stein.

Beschäftigungssicherung in der Krise als Schlüssel zum Joberfolg

Während sich die Beschäftigungsentwicklung im Aufschwung mithin kaum unterschied, beobachteten die Forscher zwischen dem Abschwung des ersten und dem des zweiten Zyklus´ starke Differenzen: In der langen Stagnationsphase zwischen 2001 und 2005 sank die Erwerbstätigkeit noch um 1,5 Prozent. Die Beschäftigungsgewinne der Vorjahre gingen zu einem guten Teil wieder verloren. Im scharfen, aber relativ kurzen Abschwung während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 nahm die Erwerbstätigkeit dagegen sogar ein wenig zu. Das sei bislang einmalig, schreiben die Forscher. „Es spricht einiges dafür, dass hier der Schlüssel für die Beschäftigungsrekorde“ der vergangenen Jahre liegen könnte. Denn durch die Jobsicherung in der Krise wurde „eine gute Ausgangslage für den darauf folgenden aktuellen Aufschwung“ geschaffen. „Wenn man von einem Jobwunder sprechen will, dann liegt es hier“, sagt Horn. „Denn der tiefe Einbruch der Produktion in den Jahren 2008 und 2009 hätte unter früheren Umständen zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit weit über die Fünf-Millionengrenze führen müssen.“

Mit den Hartz-Reformen habe der gelungene Erhalt von Beschäftigung aber wiederum nichts zu tun, betont der IMK-Direktor. „Wesentliche Teile wie beispielsweise die Deregulierung der Leiharbeit zielten ja genau in die andere Richtung: Die externe Flexibilität am Arbeitsmarkt sollte erhöht werden. Leichter einstellen im Aufschwung, leichter entlassen im Abschwung war das Modell“.

Konjunkturprogramme, Kurzarbeit und Arbeitszeitkonten

Dass es ausgerechnet in der schwersten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren anders kam, erklärt der Wissenschaftler vielmehr mit zwei Faktoren, die in eine ganz andere Richtung wirkten: Erstens einem Politikwechsel der damaligen großen Koalition. Nach anfänglichem Zögern betrieb die Regierung eine Stabilisierungspolitik aus Konjunkturprogrammen und erleichterter Kurzarbeit. Die machte es vielen Unternehmen leichter, mit dem Nachfrageausfall fertig zu werden. Zweitens, so Horn, bewährte sich in der Krise die hohe interne Flexibilität in vielen deutschen Industrieunternehmen. Vor allem in größeren Betrieben hatten Management und Arbeitnehmervertretungen Regelungen ausgehandelt, nach denen Mehr- oder Minderarbeit auch über längere Zeiträume über Arbeitszeitkonten abgerechnet werden konnten.

Im Aufschwung sei dies den Unternehmen zugute gekommen. „Sie konnten die höheren Absatzzahlen mit längeren Arbeitszeiten ohne spürbare Mehrkosten bewältigen, was ihre Rentabilität deutlich steigerte. Das befeuerte auch den Aufschwung und war sicherlich ein Grund, für dessen relativ lange Dauer“, erklärt Horn. Im Abschwung profitierten hingegen vor allem die Arbeitnehmer. „Sie wurden nicht entlassen, sondern ihre Arbeitszeit wurde bei nahezu unverändertem Einkommen gekürzt.“ Zusammen mit den Impulsen durch die Regierungsprogramme stabilisierte das nicht nur die Beschäftigung in den direkt betroffenen Betrieben, sondern es verhinderte über die stabilen Einkommen einen Einbruch des privaten Verbrauchs. Auf diese Weise griff die Krise nicht auf die Dienstleistungssektoren über, und Deutschland konnte sich auch im internationalen Vergleich besonders rasch erholen.

Horns Fazit: „Der zweite Blick enthüllt, dass die gute Beschäftigungsentwicklung in Deutschland primär das Ergebnis einer guten Konjunktur und von flexiblen Arbeitszeiten ist.“ Die Reformen der Agenda 2010 hätten wahrscheinlich die Effizienz der Arbeitsvermittlung verbessert und den Druck auf Arbeitslose, sich eine neue Beschäftigung zu suchen, erhöht. Dies reiche aber nicht, um das „Arbeitsmarktwunder“ zu erklären. „Die Apologeten der Agenda 2010 verfallen bei ihren Feiern einer großen Illusion“, sagt der Ökonom.

Weitere Informationen:

Ein Aufsatz dazu erscheint am kommenden Montag in der Zeitschrift Wirtschaftsdienst.

(IMK 2013)

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