Karneval der Wirklichkeiten … Versuch über die Fragmentierung der sozialen Wirklichkeit

Wirklichkeit oder Fiktion, besteht zwischen beidem überhaupt ein Unterschied? Wer auf diese Frage mit „Ja!“ antwortet, bringt nicht nur sich selbst, sondern auch andere in Gefahr, warnt AGITANO-Kolumnist Ulrich B Wagner. Erfahren Sie im heutigen Beitrag von QUERGEDACHT & QUERGEWORTET – Das Wort zum Freitag unter anderem, warum das Leben ein einziges Fragezeichen ist.

„Eine Welt in der Welt (welche schon Hölderlin konstatierte), in der »goldene Berge« zu finden sind, und »runde Vierecke« rollen, Münzen, die selbanderm Schlag sind (unzweiseitig, ohne Prägrand), und wo Worte, wie Blumen, entstehen und vergehen.

Plötzliche, sofort wieder zerfallende, geborgte Bedeutungen, die es – in Wahrheit – zwar gibt, die – in Wirklichkeit – aber nicht existieren.

Diese Unterscheidung, die nicht entscheidet, ob etwas überhaupt existiert oder nur existierend ist, zeigt sich aber ähnlich folgenreich wie die Frage, »warum etwas überhaupt existiert und nicht vielmehr nichts«.

Ist die »Erinnerung der Blätter an den Baum« so gleich und gleich zum Beispiel wie die Feststellung »es schneit« eben eine andere sein wird, als jene »es schneit nicht«?“

Egger, O.: Wirklichkeit und Fiktion: Das Wesen des Unvorstellbaren

Sind die Deutschen verrückt?

Wie oft haben sich unsere Nachbarn diese Frage, welche DIE ZEIT in ihrer aktuellen Ausgabe auf der Titelseite stellt, in den letzten 200 oder 300 Jahren angesichts unserer Konstruktionen von Wirklichkeit wohl schon gestellt?

Jede Erkenntnis beruht auf einem fragenden Geist, um nicht im Überschwang zu fragen: Beginnt das Leben per se nicht immer auch mit einer großen Frage?

Schwebt nicht, oder besser gesagt, wohnt nicht in jedem von uns von Anbeginn eine riesiges, fettes Fragezeichen? Oder schwebt  es gar schon unbewusst beim Geschlechtsakt mit, während man im Liebestaumel sich auf die Gemeinsamkeiten körperlich fixiert? Ein Fragezeichen, dass ungewollt beim Austausch der Körpersäfte übertragen wird, als fortlaufender Scan angesichts der latenten Unterschiede und Fremdheiten, die sich in einer manifesten Angst vor dem Ergebnis des gemeinsamen Tuns des so vor Lust und Freude begonnenen Werks entlädt?

Was wird es wohl sein? Wem wird es ähneln? Was hat es von wem, und wenn, in welcher Ausprägung? Wie sieht die Mischung aus? Was tut das Gemischte und vormals Getrennte dann auch noch in sich und mit sich, aus sich heraus?

Das Leben, ein einziges Fragezeichen?

Gewiss, es ist wahrscheinlich „nur“ ein Fragezeichen, nämlich das, wie man mit ihm umgeht, wenn es nunmal von Anfang an da ist. Wie lebt man mit ihm, dem Unbekannten, dem Nichtergründeten, dem Fremden? Und hört das Leben vielleicht auf, wenn das Fragen endet und dieses „unser“  Fragezeichen sich mit uns zum letzten Tanz begibt? Vielleicht ist es ja auch diese Drehung um sich selbst, die in diesem in uns verborgenenen Fragezeichen ruht und wohl auch ausmacht, wie sich für uns Zeit und Raum definiert. Unsere Zeit und unser Raum und damit wohl oder übel auch die Wirklichkeit, der wir uns ausgesetzt fühlen. Doch welcher Wirklichkeit überhaupt? Unsere oder die der Anderen?

Jeder von uns kennt es, dieses Gefühl der Fremdheit. Ob nun im Großen einer Nation oder der Welt an sich. Oder auch im Kleinen, der Fremdheit im eigenen Körper, im eigenen Sein.

Das Fragezeichen bleibt, während sich in uns und um uns alles verändert. Langsamer oder schneller, sanfter oder radikaler, je nach Situation oder Lebensabschnitt. Doch eines bleibt immer da: Eine permanente Veränderung. Und eng um sie eingedreht, in inniger Ein- oder Zwietracht: Unser sich ohne Unterlass drehendes Fragezeichen.

In Regel geschieht dies ohne uns zu beunruhigen, ob wir es nun verdrängt oder betäubt oder es als Teil unseres Seins anerkannt, es als Motor des Besseren, des Bewussteren zu schätzen gelernt haben. Ob wir es nun leben,oder es auf später, sehr viel später verschieben. Auf einen Zeitpunkt, an welchem wir es vielleicht noch verstehen, aber nicht mehr begreifen können.

Meine Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit

Es passiert mir häufiger, wenn ich durch Frankfurt laufe, der Stadt, die ich bereits mit meinen Kinderaugen betrachtet habe, dass ich nicht nur mit mir selbst rede, sondern auch in meinem eigenen Kopf spazieren gehe. Es sind meine Bilder, meine ganz persönlichen Eindrücke, Gefühle und Erwartungen, die sich da, während ich die neuen Hochhäuser, die Buntheit der Menschen betrachte, dafür sorgen, dass sich mir eine Wirklichkeit erschließt: Meine Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die sich erst durch den vermeintlich fremden Blick auf eine bekannte Welt erschließt, erschließen kann.

Wirklichkeit entsteht aus der Form unseres Bewusstseins, unseres ganz ur-eigenen Bewußtseins, das, wer hätte es gedacht, es sich neben, in, auf und unter, hinter und vor unserem kleinen Fragezeichen mehr oder minder bequem gemacht hat. Von wie vielen Wirklichkeiten sprechen wir jedoch? Einer? Zwei? Hunderten oder gar tausenden?

Historisch gesehen lässt sich die Entwicklung des Bewusstseins der Menschen grob gesehen in vier Stufen gliedern:

  1. archaisches Bewusstsein (eins mit der Natur, kein Bewusstsein)
  2. magisches Bewusstsein (Steinzeit, Jäger und Sammler)
  3. mythisches Bewusstsein (Stammeskulturen, Babylon, Griechen et cetera)
  4. rationales Bewusstsein (Aufklärung/ Wissenschaft)

Wobei wir hier schon bei vier Wirklichkeiten angelangt wären.

Letzte Woche schrieb der Kolumnist Jan Fleischhauer auf Spiegel-Online: „Würden Menschen immer rational agieren, wäre die Welt eine andere. Manchmal schlägt die Untergangsangst (die auch dafür verantwortlich ist, dass man von Zeit zu Zeit ein wenig die Bewusstseinsform ändert, Anm. des Kolumnisten)  in eine merkwürdige Untergangslust um. Dann ist es plötzlich egal, ob das, was kommt, besser ist als das, was ist. Der Katzenjammer folgt auf dem Fuße.“

Das rationale Bewusstsein – kein Verdienst des europäischen Geistes

Wäre es daher vielleicht nicht auch einmal an der Zeit, zu fragen, ob es noch eine Konstruktion der Wirklichkeit geben kann, die über den fragmentierten Wirklichkeiten, welche das moderne Leben auch in Zeiten des Internets mit sich bringt, als Klammer des Ganzen funktionieren kann? Es ist menschlich, nur allzu menschlich, in Zeiten der Überforderung auf Vergangenes zurückzugreifen. Es darf jedoch nicht dazu führen, verrückt zu werden, verrückt aus der Mitte in die Extreme des Seins.

Der Zustand, in dem wir uns derzeitig befinden, ist daher nicht nur ein Kampf der Kulturen, sondern ein Kampf der Bewusstseinsformen, des mystischen und des rationalen.

Auf beiden Seiten der Kampfeslinie, hüben wie drüben, lässt sich das rationale Bewußtsein durch das Auftreten anderer Bewusstseinsformen destabilisieren. Was dann wohl oder übel zu dem führt, was wir derzeitig um uns herum erleben: Dem Karneval der Wirklichkeiten.

Nur zur Erinnerung: Das rationale Bewusstsein ist kein Verdienst des europäischen Geistes, auch wenn es aktuell, auf den ersten Blick so erscheinen mag. Es entstammt einer geografischen Region, die heute direkt mit dem Terror des islamischen Staates verbunden ist. Der gute alte Homer holte sich seine Inspirationen aus Kleinasien. Die frühesten Erfahrungen mit einer strukturierten Rechtsordnung und Wirtschaft wurden in Mesopotamien und Ägypten gemacht. Und als bei uns das tiefste, dunkle Mittelalter sein Unwesen trieb, wurde dieses Bewusstsein durch arabische Gelehrte in Spanien wieder befeuert, welche die damals bei uns verbotenen und vergessenen Werke der altertümlichen Philosophie studierten. Womit nicht geleugnet wird, dass sich die historische Manifestation des Rationalen nun mal im Abendland vollzog. Auch in Folge des Bilderverbots des Islams und der Ich-Aversion auf dem indischen Subkontingent.

Das Rationale kommt mit dem Begreifen

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Selbst der Startbildschirm unseres Computers beweist: Die eine Wirklichkeit gibt es nicht. (Foto: © Jörg Simon, 2016)

Auch in unseren Breiten scheint dieses mythische Bewusstsein durch und wird in dem großen Schauspiel, das sich Politik nennt, bis zur Unerträglichkeit inszeniert. Doch das, was gerade um uns herum passiert, ist kein Spiel. Es kann für uns alle zum tödlichen Ernst werden. So oder so.

Das Rationale kommt mit dem Begreifen. Man muss etwas tun. Wir sollten daher tunlichst das Zeitalter der Schauspielerei verlassen und wieder zu Baumeistern werden. Lernen, nicht nur den Augenblick, das Fragmentarische zu lieben, sondern auch das Große, auch wenn dessen Vollendung in weiter Entfernung liegen sollte.

Wir sollten begreifen, dass der Mensch, wie Nietzsche betonte, nur dann Wert und Sinn hat, wenn er Stein in einem großen Baue ist.

In diesem Sinne, wünsche ich uns Allen frohes Mitbauen an dem, was man Zukunft nennt.

Ihr Ulrich B Wagner

Kennen Sie schon die Leinwände von Inspiring Art?