Kinder in Zeiten des Gutmenschentums: Generation Burn-Out

Wo ist die Kindheit hin? Kinder von heute hetzen von Termin zu Termin, zwischen Schule, Nachhilfe, Sport und Klarinetten-Unterricht bleibt eines nicht: Zeit. Freie Zeit, in der sich die Persönlichkeit, Ideen und die Fantasie entwickeln können. Kinder von heute sind die Sklaven von morgen.

Was Kinder und Kindheit angeht, ist Ulrich B Wagner der Ansicht: Früher war nicht alles, aber vieles besser. In seiner heutigen Kolumne „QUERGEDACHT UND QUERGEWORTET – Das Wort zum Freitag“ schwelgt er in der eigenen Kindheit und überlegt, wie es Kinder von heute besser haben könnten.

Das Große ist nicht dies oder das zu sein,
sondern man selbst zu sein

Soren Kierkegaard

Menschen kann man nicht motivieren,
aber man kann aufhören, sie zu demotivieren

Reinhard K. Sprenger

Ein Kind zu sein…

Kindheit war schon immer und zu allen Zeiten wahrscheinlich kein echtes Kinderspiel.

Vielleicht ist die heutige Kolumne zu Teilen auch dem fortschreitenden Alter und dem damit in der Regel verbundenen, wehmütigen Blick in die Vergangenheit des Kolumnisten geschuldet. Oder vielleicht doch auch Ausdruck des verzweifelten Versuchs, die Misere der heutigen Kinder nachzuvollziehen und für sich verständlich zu machen.

Kinder hatten meines Erachtens früher etwas, um das sie die Erwachsenen beneideten. Oder besser gesagt, für das sie auf alle Fälle sogar offen bewundert wurden und das den einen oder anderen genialen Menschen dazu verführte, das eine oder andere besonders wertvolle über diese kurze, aber prägende Zeit in das weitere Leben als Erwachsener hinüber zu schmuggeln und somit auch zu retten. Joseph Roth sagte beispielsweise einmal über Ödön von Horváth: „Er war ein starker Mensch, leichtfertig scheinbar, kindlich und boshaft und mit der scharfen Beobachtungsgabe ausgestattet, die Kinder besitzen.“

Freie Zeit für freie Kinder

Jungs spielten Fußball und Mädchen Gummitwist. Wir schnitzten Steinschleudern, jagten Hasen. Die Eltern ließen uns laufen, und wenn die Erwachsenen zusammensaßen, bekamen wir einen eigenen Tisch. Aus der ersten Zigarette, so mit zehn oder elf, wurde gleich eine ganze Packung, danach war uns schlecht, aber niemand hat es bemerkt. Die Welt war groß, und wir waren halt klein. Wir haben Regenwürmer zerteilt und Heuschrecken geschluckt. Bauten Höhlen hinter Hecken und klauten Äpfel von den Bäumen. Machten Feuer, was wir nicht sollten, und fielen von Mauern, was wir nicht wollten. Wir streunten durch die Felder, stauten den Bach und waren immer dreckig. Die schlimmste Strafe war Hausarrest. Wenn wir eine Uhr brauchten, schauten wir hoch zur Kirche. Und das wichtigste: Wir hatten Zeit.

Zeit ist heute Mangelware. Von Gelassenheit und Leichtigkeit im Umgang mit den Kindern an dieser Stelle noch ganz zu schweigen.

Kinder brauchen Zeit

Doch nur zur Erinnerung: Unser Umgang mit Kindern war mit Gewissheit schon einmal deutlich gelassener. „Das wächst sich aus“, „Das renkt sich ein“, „Das wird schon werden“: Man hört es nicht mehr oft. Denn die „guten“ Eltern von heute wollen sich kümmern, wollen die Dinge richten. An dieser Stelle eine wohl typische Szene: Als sich beim Fußballtraining meines neunjährigen Sohnes eine Mutter in den Streit ihres Kleinen mit zwei anderen Jungen einmischt, fragt dieser allen Ernstes laut: „Mama, darf ich mich wenigstens mal ohne deine Hilfe streiten?“

Natürlichkeit statt Krampf

Vor allem aber der natürliche Umgang geht verloren. Geraten Kinder auch nur in Kleinigkeiten von der Norm ab, weil sie für das eine oder andere mehr Zeit benötigen, geraten Eltern sofort in Panik. Läuft das eigene Kind als einziges in der Krabbelgruppe noch nicht mit zwölf Monaten, fragen Eltern nach Krankengymnastik. Hinweise, dass Dummerchen manchmal früher mit dem Sprechen beginnen als die später Klugen (was so am Rande gesagt, bis ins hohe Alter zu gelten scheint), beruhigen sie auch nicht.

Genies wie Einstein und Konsorten wären heute schon im Kindergarten, wenn nicht sogar in der Krabbelstube, gestutzt worden. Der kleine Einstein stotterte nämlich. Wenn Eltern den Nachwuchs bereits im Kindergarten für den weltweiten Konkurrenzkampf abrichten, bleibt Kindheit nicht der mehr oder weniger geschützte Raum, zu dem er in den vergangenen 50 Jahren geworden war. Früher hieß es: Raus auf die Straße, spielen. Heute: Ab nach Hause, lernen. „In unserer Epoche“, schreibt der Psychoanalytiker Miguel Benasayag, „hat sich in der westlichen Zivilisation ein Wandel vollzogen: von einem maßlosen Vertrauen in die Zukunft zu einem fast ebenso übertriebenen Misstrauen.

Alles Abweichende, alles gegen die vermeintliche Norm verstoßende wird verdächtig und verfolgt.“
Durch Zufall fiel mir die Tage eine alte Studie aus dem Jahr 2013 in die Hände, die besagt, dass Widerspenstigkeit und das Infragestellen von Grenzen im späteren Leben zu einem sozial verträglichen Unternehmergeist werden.

Aha…

Ist hierfür eigentlich noch genügend Platz im Leben eines Kindes und Heranwachsenden im Jahr 2015?

Unterforderung und Überschätzung: Eine fatale Mischung

wagner, kinder, kindheit, traurig
Wo ist das Unbeschwerte geblieben? (Bild: © Ulrich B Wagner & Alistair Duncan / alistairduncan.de)

Die Töchter und Söhne von heute werden nämlich auf eine fatale Art und Weise zugleich unterfordert und überschätzt. Noch nie konnten Eltern ihren Kindern so viele Angebote machen – und noch nie haben sie ihnen so viel abverlangt. Die Welt der Kinder ist kompliziert geworden. An dem Tisch, an dem Eltern über Erziehung debattieren, hatten zwar auch schon früher immer auch andere versucht, Platz zu nehmen. Auch solche, die mit Kindern eigentlich gar nichts zu tun haben. Beim Blick in die Geschichte erkennen wir das Muster ganz gut: In Erziehungsfragen haben immer auch diejenigen mitgeredet, denen es nicht um die Kinder selbst ging, sondern um deren spätere Funktionen – ob als Fabrikarbeiter, Soldaten, fruchtbare Mütter, Bewohner eines angeblich freien Raumes im Osten oder als sozialistische Normerfüller.

Kinder im Blick – oder ihre Zukunft als Funktionsträger?

Wie von Zauberhand ließen sich die meisten Eltern auf die Ansagen derer ein, die eben gerade in der Gesellschaft das Sagen hatten – selbst auf Ansagen, die uns heute peinlich sind und die wir empört als kinderfeindlich zurückweisen. Und doch landen die meisten Eltern dann wieder bei den gleichen Vorstellungen, was denn für ihr einzigartiges, individuelles Kind genau die richtige Förderung ist.

Und was ist heute? Ist das noch normal oder steuern wir gerade auf einen gefährlichen Fundamentalismus des Gutmenschentums zu? Einem Gutmenschentum, in dem das Kind das bekommt, was es will. Nicht, was es braucht. Von Zeit ganz zu schweigen. Freier Zeit. Zeit mit sich alleine. Aber auch echte und insbesondere altersgerechte Herausforderungen.

Gebt den Kindern Hoffnung!

Ich für meine Person glaube fest daran, dass es endlich wieder Zeit wird, das Abweichende zu fördern, das Kindliche, Naive, Offene und Freudige, anstatt unsere Kinder schon zu Sklaven eines zutiefst unmenschlichen, pekunären Systems zu machen, das blind den Dogmen der Austerität huldigt.

Vielleicht gelingt es dem einen oder anderen von uns ja, dem Kind in seiner Nähe das zu vermitteln, was die Hüter der Macht des Geldes am meisten fürchten: Hoffnung!

Eine Hoffnung, die noch nicht von nacktem, kurzfristigen Erfolgs- und Gewinnstreben geprägt ist.
Ihr
Ulrich B Wagner

Über Ulrich B Wagner

Ulrich Wagner
QUERGEDACHT & QUERGEWORTET – Das Wort zum Freitag (Foto: © Ulrich B. Wagner)

Ulrich B Wagner (Jahrgang 1967) ist Diplom-Soziologe, Psychologe, Schriftsteller und Kolumnist. Sein Studium der Soziologie, Psychologie & Rechtswissenschaften absolvierte er an der Johann Wolfgang von Goethe Universität, Frankfurt am Main. Zusammen mit Professor Karl-Otto Hondrich arbeitete er am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an einer Reihe von Forschungsprojekten zum Thema „Sozialer und kultureller Wandel“.

Ulrich B Wagner ist Dozent an der european school of design in Frankfurt am Main mit dem Schwerpunkt  Kommunikationstheorie, Werbe- und Konsumentenpsychologie, sowie Soziologie und kultureller Wandel und arbeitet als Berater sowie systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikation und Konzeptentwicklung, Begleitung von
Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

Zu erreichen: via Mail ulrich@ulrichbwagner.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).

Kennen Sie schon die Leinwände von Inspiring Art?