Kundenbefragungen? Versuchen Sie es doch mal mit der „Critical Incident Technique“

… aus der wöchentlichen Kolumne von Anne M. Schüller.

Klassische Kundenbefragungen bleiben meist an der Oberfläche – und sie sind gefährlich. Denn auf ihre mehr oder weniger sorgfältig ausformulierten Fragen erhalten die Interviewer kaum Wahrhaftigkeit, sondern vornehmlich Antworten, die opportun erscheinen oder den Befragten vor sich selbst und anderen in ein gutes Licht rücken sollen. Dies passiert in aller Regel nicht absichtlich. Die Ursache liegt vielmehr darin, dass uns der Zugang zum Unbewussten fehlt. Wir machen uns selbst etwas vor. Psychologen nennen das Wahrnehmungsgefängnis.

So stecken hinter den meist rational vorgetragenen sachlichen und fachlichen Anlässen für Unzufriedenheit und Frustration oft ganz andere Gründe. Die allermeisten Kunden beenden eine Geschäftsbeziehung in Wahrheit aufgrund zwischenmenschlichen Fehlverhaltens, weil …:
– man sich um ihr Wohlbefinden nicht gekümmert hat.
– man unfreundlich oder unhöflich zu ihnen war.
– man sie ‚wie eine Nummer‘ abgefertigt hat.
– sie keine Aufmerksamkeit bekamen.
– sie nie ein Danke gehört haben.
– nie gesagt wurde, wie wichtig sie als Kunde sind.
– sie einfach vergessen wurden.

Das Hinterfragen kritischer Ereignisse kann deshalb sehr hilfreich sein.

Wie die Critical Incident Technique funktioniert

Die ‚Methode der kritischen Ereignisse’ versucht, im Rahmen einer tiefer gehenden Analyse den genauen Hergang der Geschehnisse zu identifizieren. Dies geschieht in zwei Schritten. Im ersten Schritt wird der Befragte gebeten, sich genau an das ausschlaggebende Ereignis zu erinnern und dieses möglichst in allen Einzelheiten zu beschreiben. Im zweiten Schritt wird versucht, mit Zusatzfragen wie: „Was passierte an der Stelle ganz genau?“ – „Wie kam es zu dieser Situation?“ – „Wer machte was?“ –  „Wie ging es dann weiter?“ – „Wie fühlten Sie sich dabei?“ – „Wie haben Sie schließlich reagiert?“ tiefer ins Detail zu dringen.

Ein solches Gespräch kann sich zum Beispiel wie folgt entwickeln:
Frage: Wie lange waren Sie schon Kunde bei Versicherung x?
Antwort: Zehn Jahre.
Frage: Was veranlasste Sie denn, Ihren Vertrag zu kündigen?
Antwort: Die Versicherung y hat bessere Tarife.
Frage: Waren die Tarife von Versicherung y schon immer niedriger oder sanken sie erst in letzter Zeit?
Antwort: Ich weiß es nicht, ich habe es erst kürzlich bemerkt.
Frage: Was führte dazu, dass Sie es bemerkten?
Antwort: Ich war ein wenig verärgert über Versicherung x und erhielt dann einen Anruf von Versicherung y.
Frage: Weshalb waren Sie denn verärgert?
Antwort: Um ehrlich zu sein, es war wegen dieser Tariferhöhung nach meinem Unfall.
Frage: War das früher auch schon mal passiert?
Antwort: Ja, schon zweimal sogar.
Frage: Und da haben Sie nicht gekündigt, weil es anderswo billiger war?
Antwort: Nein.
Frage: Was war denn diesmal anders?
Antwort: Dieses Mal hatte man mich nach der Schadensregulierung nicht vorgewarnt und so hatte ich gar nicht mehr damit gerechnet.

Nicht der bessere Preis, den der Kunde ursprünglich als Wechselauslöser angegeben hatte, sondern eine emotionale Verletztheit war also der eigentliche Abwanderungsgrund. Wie sich später herausstellte, war aus Kostengründen der sogenannte Schadensabschlussbericht an die Kunden, die einen Unfall gehabt hatten, aus Kostengründen eingestellt worden, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen, was das bei den Kunden bewirkt.

Wie sich mit der Critical Incident Technique umgehen lässt

Die ‚Methode der kritischen Ereignisse’ macht aus Zahlenakrobaten Menschenversteher. Die typische Controller-Frage: „Wie viel sparen wir, wenn wir …?“ muss dabei zukünftig lauten: „Wie viele Kunden und damit Euro verlieren wir, wenn wir …“. Dies gilt insbesondere dann, wenn etwa bedingt durch Vertragsende, Konditionen-Anpassungen usw. verstärkt mit Kündigungen zu rechnen ist. Gerade der Versand von Rechnungen bzw. Mahnungen ist ein ausgesprochen kritischer Moment. Dies vor allem dann, wenn es außer Auftragsannahme und Rechnung keinerlei Kontakt mit dem Kunden gibt – was in manchen Fällen eher die Regel als die Ausnahme ist.

Der Interviewer benötigt für CIT-Gespräche eine hohe emotionale Kompetenz. Er sollte einfühlend fragen und aufmerksam hinhören können. Er muss den Kunden ernst nehmen und ihm Wertschätzung entgegenbringen. Er muss geduldig sein, denn das Gespräch kann dauern. Und er muss dem Kunden signalisieren, wie wichtig die Sache für das Unternehmen und dessen Weiterentwicklung ist.

Bei der Dokumentation der Ergebnisse ist darauf zu achten, dass die Äußerungen der Befragten wortgetreu wiedergegeben werden. Auch die zutage getretenen Emotionen sollten festgehalten werden. All dies wird gesammelt, gesichtet und gewichtet. So entsteht eine nach Prioritäten geordnete Liste von sachlichen, fachlichen und interpersonellen Mängeln, die es zu beheben gilt. Hierzu sollen einzelne Episoden im Detail wiedergegeben werden, um sie für Aha-Effekte zu nutzen.

Und bei der Präsentation vor dem Top-Management gilt: Ein paar per Video abgespielte O-Töne von aufgebrachten Kunden bewirken oft mehr als ein dicker Berichtband voll Zahlenkolonnen und Kuchendiagrammen.

Ihre Anne M. Schüller

Quelle: Foto Wolfgang List – www.perfectfotos.com

Zur Autorin

Anne M. Schüller ist Management-Consultant und gilt als Europas führende Expertin für Loyalitätsmarketing. Über 20 Jahre hat sie in leitenden Vertriebs- und Marketingpositionen verschiedener Dienstleistungsbranchen gearbeitet und dabei mehrere Auszeichnungen erhalten. Die Diplom-Betriebswirtin und zehnfache Buchautorin gehört zu den gefragtesten Wirtschafts-Speakern im deutschsprachigen Raum. Sie arbeitet auch als Business-Trainerin und lehrt an mehreren Hochschulen. Managementbuch.de zählt sie zu den wichtigen Managementdenkern. Zu ihrem Kundenkreis zählt die Elite der Wirtschaft.

Mehr zu Anne M. Schüller finden Sie unter www.anneschueller.de.

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