MenschWerdung: Papst Franziskus und die polyamore Gesellschaft

Mensch sein, was ist das eigentlich? In unseren Zeiten des Umbruchs steht mehr auf dem Spiel als die Freiheit des Menschen als solche, während Papst Franziskus sich bewusst als „normalen“ Menschen bezeichnet und gerade Worte und Namen nicht immer genau das bezeichnen, was sie meinen. Gerade jetzt bedarf es einer MenschWerdung aller. Unser Kolumnist, Ulrich B Wagner, macht im heutigen Beitrag von „QUERGEDACHT & QUERGEWORTET“ einige interessante Beobachtungen zu den Verhaltensmustern in dieser Zeit und was eigentlich als Ideal zählt und was nicht.

Das Wort ward Fleisch…
Am anfang war das Wort / Vnd das wort war bey Gott / vnd Gott war das Wort.

(1. Mose 1.1) (1. Johannes 1.1-2) (Johannes 17.5) (Offenbarung 19.13).

Passen diese Worte noch?

Sei’s drum, so oder so ähnlich steht es auf alle Fälle in der unrevidierten Lutherübersetzung von 1545. Wobei wir eigentlich auch schon wieder bei der alten Ei-oder-Henne-Problematik aus Kindertagen angelangt wären: voller Metaphyshik, voller Mysterien, Erzählungen und Märchen, die uns, jeden Einzelnen mit seiner Brille, seiner Lese-, Sonne- oder Umkehrbrille in die Welt entlassen hat.

Aber passen sie auch noch, die Worte, passen sie noch in einer Zeit, in der uns die Wissenschaft und der bei dem Einen oder Anderen mehr unfreiwilligen als freiwilligen Ausstieg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, auch die konkrete Frage nach der Herkunft des Huhn kein Henne-Ei-Problem mehr darstellt? Immerhin hat es sich, aber das weiß heutzutage Dank Google & Co. ja jedes Baby, einfach so evolutionär entwickelt, so hat sich also im biologischen Sinn auf Gottes Erden zu keiner Zeit ein erstes Huhn – geschweige denn ein erstes Hühnerei – befunden. Ei des Kolumbus hin oder her.

Das Wort verbirgt das Sein

Etwas profaner, aber auch romantischer vielleicht kann man es mit einem Lied von Marillion auf den Lippen vor sich her grinsen:

Everybody knows that we live in a world where they
give bad names to beautiful things.

Vielleicht sind Worte ja doch nur Verkleidungen, nicht mal gar Nachbildungen, geschweige denn Abbilder. Aber das Wort vom Anfang, das Einzigartige vor dem Anfang – ist es am Ende des Tages auch noch?

Ist uns, unserer Generation, die wir das enorme Glück haben, in Freiheit und Frieden aufgewachsen zu sein, Freiheit wirklich selbst zu einer Verkleidung verkommen, wie es ein Cartoon auf der Titelseite des Feuilleton in DIE ZEIT vom 23. Februar 2017 so treffend auf den Punkt brachte?: Es reicht nicht einfach mehr Taschengeld zu fordern. Du musst deine ökonomischen Interessen auch gut durch gutes Benehmen verstecken!

Oder ist es doch nur (???) der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen geschuldet, wie es Ernst Bloch in „Erbschaft dieser Zeit“ (1973: 104) auf den Punkt brachte:

„Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, dass sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein. Je nachdem, wo einer leiblich, vor allem klassenhaft steht, hat er seine Zeiten. (…) Verschiedene Jahre überhaupt schlagen in dem einen, das soeben gezählt wird und herrscht. Sie blühen auch nicht im Verborgenen wie bisher, sondern widersprechen dem Jetzt; sehr merkwürdig, schief, von rückwärts her.“

Dem Ideal huldigen, die Machtlosen verachten

Es ist gewiss nicht der Ewigen Wiederkehr des Selbigen geschuldet oder vielleicht doch, dass mir in diesen Umbruchzeiten, – des nicht Hier und Dort, des in between, des Einen und nicht des Anderen, der Pervertierung des Geglaubten, unseres Als Ob, wie ich es in der vergangenen Kolumne als Motor unseres alles überragenden neoliberalen Wirtschaftsethos beschrieb, – immer als erstes das Rokoko in den bildnerischen Sinn kommt. Einer Zeit der ästhetischen Onanie, die ich auch gerne als Geburtsstunde des modernen Marketings beschreibe. Einer Zeit, die auf das Pathos des Barocks, des Wallstreet Poker, der hippen selbstverliebten Yuppies und der neuen Transzendenz des Geldes folgte und in der der Mann, in seiner Verherrlichung des Ego, des Absolutistischen und Autokratischen auch noch zu sagen hatte, wo der Hase im Pfeffer lag oder liegen mag.

Auch in der nachfolgenden Zeit des Rokokos beschäftigte man sich dann aber nur noch mit sich selbst, huldigte dem Schönheitsideal der höfischen Gesellschaft, dem Club der Milliardäre, und brachte die Verachtung der Anderen zum Ausdruck: Der Unmenschen in Gestalt verspielter und mehr oder minder eleganter Formen leb- und leibhaftigem gekränkten Macht- und Einflussverlusts.

Was folgt ist die Guillotine …

Sie gehört mit Sicherheit von 1789 bis 1799 – die Revolution meine ich und nicht unbedingt das Fallbeil mit seiner im Volksmund verkürzt wiedergegebenen Losung der Liberté, der égalité und fraternité – zu den folgenreichsten Ereignissen der neuzeitlichen europäischen Geschichte. Aber auch die Proklamation der Menschenrechte, die mit Recht als mitursächlich für die tiefgreifenden macht- und gesellschaftspolitischen Veränderungen in ganz Europa anzusehen sind und, ich denke auch (noch) bis heute, das moderne Demokratieverständnis maßgeblich prägen.

Alles wirklich nur Worte, Geschichte, Erzählung, Verkleidung – und am Ende des Tages keinen müden Pfifferling mehr wert? Reine Konsensfiktion, vergleichbar einem in der Euphorie des Immerweiterso geschuldeten und unterschriebenen Blanko-Schecks, der sich bei seiner Einreichung am Tag der Tage doch nur als bloße ungedeckte Makulatur des Als Ob, als postmodernes Opium für’s Volk entpuppt?

Der Papst als Mensch

„Ich kenne auch die leeren Momente“, sagte Papst Franziskus gegenüber DIE ZEIT im Gespräch zum Thema „Was bedeutet Glaube?“, in dem er (fast) so nebenbei jeder Art von Papstkult eine Absage erteilt und sich als ganz normalen Menschen darstellt: „Wir dürfen nicht vergessen, dass die Idealisierung eines Menschen stets auch eine unterschwellige Art der Aggression ist. Wenn ich idealisiert werde, fühle ich mich angegriffen“, fuhr der Pontifex Maximus fort, „Ich bin – ich will nicht sagen: ‚ein armer Teufel‘, aber ich bin ein ganz normaler Mensch, der tut, was er kann…, ein fehlbarer Sünder“ halt.

Eine MenschWerdung der ehemaligen Unfehlbarkeit in einer Zeit, in der DER SPIEGEL die polyamore Gesellschaft ausruft, und in der der Austritt der Liebe aus der vermeintlich festen Beziehung, einem sanktionierten Zustand, der nicht nur Generationen von Frauen (fast oder leibhaftig) nur in den blanken Wahnsinn, sondern in tatsächliche Unfreiheit und Tyrannei, getrieben hatte.

Der Konflikt ist Fleisch geworden

Es scheint daher bezeichnend, dass sich gerade jetzt, in diesen Augenblicken und Zeiten, der latente und schon manifeste Konflikt, zwischen Autokratie, Zensur, Unterdrückung und Folter auf der einen Seite und dem Grundgedanken der Demokratie und Freiheit auf der anderen Seite, so greif- und begreifbar zwischen Holland und der Türkei in Fleisch verwandelt und so für uns alle leibhaftig wird. Ein Land wie Holland, das für sein Recht auf freie Liebe, ein Recht auf Rauchbares, aber auch ein Recht auf ein freies und menschenwürdiges Leben und Ableben steht. Ein Volk, das für seine Wohnwägen, seine Reiselust und auch für das in Deutschland so gängige Märchen von der Gardinensteuer bekannt ist.

Ohne Gardinen für mehr Transparenz

Okay, die Gardinensteuer gab es auch zu keinem Zeitpunkt, weder in der holländischen, noch in der niederländischen Geschichte. Doch wo kommen sie her, all die gardinenfreien Fenster, durch die häufig bis weit ins Hausinnere, durch mehrere Räume hindurch, hineingeblickt werden kann? Eine weitverbreitete These beruht darauf, dass davon auszugehen sei, dass viele Niederländer keine Gardinen haben, da das gesamte Land calvinistisch geprägt ist.

Die Glaubensrichtung des Kalvinismus wurde bereits 1552 von lutherschen Theologen erwähnt. Eine theologische GardinenBewegung, in der durch die nicht vorhandenen Gardinen Offenheit, Freiheit und Vertrauen ausgedrückt wird, sondern auch das Signal ausgesendet wird, dass niemand etwas zu verbergen hat.

MenschWerdung mit offenen Karten

Es steht viel auf dem Spiel zur Zeit. Wir leben nicht nur sprichwörtlich in revolutionären Zeiten, sondern sind schon ein integraler Bestandteil darin.

In einer Zeit, in der nicht nur die freie Liebe, sondern die Freiheit und Liebe per se von allen Seiten von autokratischen Kräften bedroht wird:

Packen wir es endlich an, bevor es zu spät ist.

Holen wir doch endlich den Menschen wieder zurück in unser Leben, in uns, in unsere Gemeinschaft, in unsere Gesellschaften und unser tägliches Miteinander.

Manchmal ist es ja schon ein Anfang, den Worten, die für das stehen, was uns lieb und wichtig erscheint, die Verkleidungen des Unaufrichtigen zu entreißen.

Es ist Zeit für die MenschWerdung, für die MenschWerdung der Freiheit, unserer Freiheit.

Ihr Ulrich B Wagner

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