SMARTPHONisiertes Denken: ein verstohlener Blick hinter die Berührung des Selbstverständlichen

Kaum eine Erfindung hat in den vergangenen Jahren mehr Einfluss auf die Gestaltung unseres Alltags ausgeübt als das Smartphone. Führt man sich einmal vor Augen, wie viele von uns auf der Suche nach Antworten auf alle möglichen und unmöglichen Fragen mehrmals täglich in die kleinen Displays starren, stellt sich einem die Frage: Aus welchen Bestandteilen setzt sich das, was wir Wirklichkeit nennen, heutzutage zusammen?

Eine Frage, die auch AGITANO-Kolumnist Ulrich B Wagner beschäftigte und er ist überzeugt, dass die elektronischen Alleskönner, die so genannten Schweizer Taschenmesser des 21. Jahrhunderts“ uns bei der Suche nach Antworten auf eben diese Frage helfen können. Vorausgesetzt wir lernen, wie wir sie uns dafür zunutze machen können.

Die Entblößung des Denkens ist seine Praxis: Denken, das sich seiner Objekte entledigt, um es selbst zu werden: »Wir«, die einen mit den anderen und der Welt.“

Jean-Luc Nancy, DAS NACKTE DENKEN

Wer ist Opfer? Wer ist Täter?

Ich glaube es war George Bernhard Shaw, der einmal die weisen Worte formte, dass Entwicklung oder „Fortschritt“ (progress) ohne Veränderung unmöglich ist und dass die, die nicht in der Lage sind ihre Köpfe, ihr Bewusstsein (mind) zu verändern, gar nichts verändern können.

So weit, so gut. Worte haben etwas Magisches. Sie ergreifen uns, wenn wir sie begreifen. Doch wie sieht so ein Begreifen des Ergreifenden aus? Formt der, der die Worte formt, schließlich auch unser „Mind“ oder sind wir es gar gemeinsam, in einem kurzen Moment eines auf den ersten Blick zufälligen Zusammentreffens?

Wer ist Opfer? Wer ist Täter? Wer Knecht? Wer Herr/ Frau? Wer Ausführender, wer reines Werkzeug? Kann ein Werkzeug sich entscheiden oder ist dieses doch nur der Paradoxie der Umstände geschuldet, der vermeintlichen Selbstverständlichkeit des Denkens? Sodass, dass das, was „dienen“ soll, sich schließlich selbst dazu entscheidet, wofür es dienen soll und sich aus Ermangelung des Möglichen, der Begrenztheit des Möglichkeitsraums sich dazu entscheidet, sich selbst zu dienen.

Meinen wir allen Ernstes, Wirklichkeit auf Zahlen und Fakten reduzieren zu können oder offenbart sie sich erst im Bild. Einem Bild, zusammengesetzt aus tausenden, abertausenden Puzzelbildern, jedes einzelne miss- und unverständlich, doch in seiner Ganzheit, nicht Kreation, nicht Zufall, sondern tatsächliche Tatsächlichkeit?

Wozu dient es?

Krise, crisis, Urteil und Entscheidung? Alles doch nur Zufall, reines Zusammentreffen, nonkausales, singuläres Tun oder Lassen? Oder leben wir doch, auch wenn mangelnder Zeitgenossenschaft geschuldet, auch nur unbewusst, fast beiläufig gerade Dort, im Hier und Jetzt, in dem die Grenze zwischen Zufall und Absicht fließend geworden ist. Beiläufig.

Läuft es nun bei uns oder entsteht das, was wir als Bewegung, als Veränderung wahrnehmen gerade durch dieses Zusammentreffen, doch wir sind so in der Bewegung gefangen, dass wir selbst nicht mehr realisieren, dass der Antrieb in uns verortet ist.

Doch erst so, in dieser ersten Beiläufigkeit, verbinden sich jedoch bereits das Absichtliche und das Zufallende, bis sie schließlich ineinander verfließen.

Alles trägt alles bereits in sich

In diesem kairos, dem reinen Augenblick, in diesem Verfließen von vormals getrenntem Absichtlichen und Zufallenden formt sich schließlich das heraus, was wir Wirklichkeit nennen.

Die Gegenwart werden wir nie zu greifen bekommen, sie entzieht sich uns, sie wendet sich ab von uns. Gerade deshalb ist echte Zeitgenossenschaft auch so extrem schwierig, denn wie Nietzsche bereits ausführlich hervorhob, ist wahrhaft zeitgenössisch nur das Unzeitgemäße. Alles hängt zusammen, alles trägt alles bereits in sich und weiß dennoch nicht was es zukünftig sein wird. Denn jede Entscheidung über die Gegenwart, ob im individuellen oder kollektiven Leben, setzt die Beziehung zu einem konkreten Augenblick der Vergangenheit voraus, mit dem sie ins Reine kommen muss, wie Giorgio Agamben es einmal ausdrückte.

Gegenwart ist eine Form der fortwährenden Spiegelung des Spiegelbildes. Einer Gefangenheit des Denkens im eigenen Denken. Bild des Bildes. Abbild, Vorbild und Nachbild in einem, das erst durch die bewusste Dekonstruktion des Bildes, sein wahres Bild entblößt.

Wir müssen lernen zu denken

Abertausende Matrjoschkas die wir sind, denkend in uns selbst, mit uns und in uns und den anderen in sich Geschlossenen. So öffnet der Blick in das Smartphone die Welt und schließt sie im selben Moment im eigenen Spiegelbild gefangen wieder ein. Erst wenn wir es zu gebrauchen lernen, es nicht als Tatsache und Eigentu(ü)mlichkeit begreifen, es mit unseren Händen und unserem Geist erfassen, wird es auch zu dem, was es verspricht zu sein: Eine Möglichkeit, die Welt in eine mögliche, eine andere, zu verändern.

Wir müssen lernen zu denken, ein Denken, dass bereit ist hinter den Spiegel zu blicken und diese erste Erscheinung als das erkennt was sie ist, ein Abbild einer Idee, die sich bloß hinter der Konstruktion des vermeintlichen Bildes verbirgt, indem es sich verkleidet.

Friedrich Dürrenmatt hat uns „Opfern“, vermeintlich undurchschaubarer Umstände und Personifikationen der gegenwärtigen Orientierungslosigkeit bereits vor unserem Ableben und vor unserer Zeit mit seiner Ballade „Minotaurus“ ein Denkmal gesetzt:

Das Wesen, das die Tochter des Sonnengottes, Pasiphae, geboren hatte, nachdem sie auf ihren Wunsch hin eingeschlossen in eine künstliche Kuh von einem dem Poseidon geweihten weißen Stier bestiegen worden war, fand sich, von den Knechten des Minos hineingeschleppt, die lange Ketten bildeten, um sich nicht zu verlieren, nach langen Jahren eines wirren Schlafs, währenddessen es in einem Stall zwischen Kühen heranwuchs, auf dem Boden des Labyrinths vor, das von Daidalos schützen, einer Anlage, aus der keiner, der sie betreten hatte, wieder herausfand und deren unzählige in sich verschachtelte Wände aus Glas waren, so dass das Wesen nicht nur seinem Spiegelbild gegenüberkauerte, sondern auch den Spiegelbildern seiner Spiegelbilder: Es sah unermesslich viele Wesen, wie es eines war, vor sich, und wie es sich herumdrehte, um sie nicht mehr zu sehen, unermesslich viele ihm gleiche Wesen wiederum vor sich. Es befand sich in einer Welt voll kauernder Wesen, ohne zu wissen, dass es selber das Wesen war. Es war wie gelähmt. Es wusste nicht, wo es war, noch was die kauernden Wesen rundherum wollten, vielleicht träumte es nur, auch wenn es nicht wusste, was Traum war und was Wirklichkeit. Es sprang auf instinktiv, um die kauernden Wesen zu vertreiben, gleichzeitig sprangen seine Spiegelbilder auf. Es duckte sich, und mit ihm duckten sich seine Spiegelbilder. Sie ließen sich nicht vertreiben.“

Friedrich Dürrenmatt, Minotaurus. Eine Ballade. Zürich 1985

In diesem Sinne wünsche ich uns allen allzeit genug Mut für einen aufrichtigen Blick hinter den smarten Spiegel, den wir fortwährend vor unsere Wahrnehmung halten.

Ihr

Ulrich B Wagner

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