„stundenbuch – Zeiten für Einkehr“: 1. Woche Mittwoch – Finden und Wiederfinden

… von Ulrich B Wagner aus seinem „stundenbuch – Zeiten der Einkehr – 1. Woche – Kairos und Chronos auf der Suche nach der verlorenen Zeit„.

Nach den ersten drei Tagen – Sonntag, Montag und Dienstag – folgt heute:

Mittwoch

Finden und Wiederfinden

Ein Wunder eigentlich, dass so viele
von uns am Abend zurück nachhause finden, nicht wahr?

Ein Wunder eigentlich, wie wenige es sind,
die Tag für Tag verloren gehen, nicht wahr? …

(Peter Handke, Kali, Suhrkamp 2007)
Am Morgen

Die großen Begebenheiten der Welt werden nicht gemacht, sondern sie finden sich.

Ein Wunder eigentlich, dass so viele von uns Abend zurück nachhause finden …… Ein Wunder eigentlich, wie wenige es sind … die von uns verloren gehen. Oder sind es doch mehr als wir glauben? Glauben möchten, da uns die Wahrheit nicht nur verwundern, sondern auch den Schreck in die Glieder fahren lassen würde.

Wen oder was verlieren wir und/oder wird von uns gefunden oder wiedergefunden? Eine auf den ersten Blick wieder einmal sehr alltägliche Frage, mögen Sie einwenden. Ja, mag sein, wenn man es tunlichst vermeidet, an der Oberfläche des Selbstverständlichen zu kratzen. Es ist dahingehend auch ratsam, nur leicht an der Patina oder der kleinen Staubschicht, die sich auf der Oberfläche gebildet hat zu fühlen, um meiner obigen Frage ein wenig auf die Spur zu verhelfen. Nicht die Bohrungen in der Tiefe, weit unter der Oberfläche sind erhellend, da die Tiefen und Abgründen meist nahtlos mit dem übereinander gehen, was wir noch Oberfläche zu nennen gewohnt sind.

Versuchen wir es einmal mit zwei Alltagsweisheiten:

Ich habe es aus dem Bewusstsein verloren oder
Aus den Augen aus dem Sinn

Kennen wir die Systematik unserer Alltaggegenstände vielleicht besser, als die Funktionsweise unseres Ich? Damit wir etwas aus dem Bewusstsein verlieren können, muss es ja erst einmal hinein – und genau hier liegt der sprichwörtliche Hase schon vergraben. Unsere zentrale Leitstelle und unser Informationsverabeitungszentrum hat nämlich auch so seine Grenzen. Nur eine ganz gewisse Anzahl von Sinneseindrücken oder Informationen (welches Wort sie hier auch immer lieber benutzen mögen) kann im Bewusstsein auftauchen und entsprechend erkannt, einsortiert und abgearbeitet werden, ohne dass sich die einzelnen auf Einlass bemühten Besucher auf die Füße treten und sich wie wild ins Gehege kommen. Natürlich gibt es Tätigkeiten, die man gleichzeitig verrichten kann. Aber….. Hier kommt schon die Einschränkung sie dürfen nicht den gleichen Sachbearbeiter in unserem Gehirn beanspruchen Zähneputzen und dem Radio lauschen. Ja!? Probiere sie es selbst einmal aus. Wenn sie jedoch irgendetwas anfängt zu interessieren von diesen beiden auf den ersten Blick so routinemäßig und automatisch durchgeführten Tätigkeiten. Was passiert wohl? Nichts. Na gut, es mag bestimmt Menschen geben, die es lieben, ihre Lippen und Wangen mit der Zahnbürste zu massieren.

Unsere Aufmerksamkeit ist nun mal begrenzt.

Wenn wir über ein Problem nachdenken, können wir weder echte Trauer, noch echtes Glück empfinden. Deshalb hilft es uns ja auf den ersten Blick immer so gut uns in Arbeit zu stürzen. Oder?

Wir können also nicht singen und gleichzeitig unsere Steuererklärung nachrechnen, weil jede Aktivität unsere Aufmerksamkeitskapazität voll in Anspruch nimmt.

Warum erzähle ich Ihnen das Ganze. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, ob vielleicht gar nicht nur die mangelnde Zeit an allem Schuld sein könnte, sondern unsere in uns selbst begründete Möglichkeit oder Unmöglichkeit uns Dinge wahrhaft zu vergegenwärtigen, sich bewusst zu machen?

Die Frage die sich dann stellte wäre nämlich wie gewinne ich mehr Zeit, sondern wem oder was schenke ich meine Aufmerksamkeit, in welcher Güteklasse?

Doch zurück zum Finden und Wiederfinden. Hierzu brauchen wir erst einmal etwas Verlorenes oder etwas ganz neues, dass uns noch nicht im Bewusstsein war.

Verlieren wir vielleicht immer gerade das, was uns selbstverständlich, gewohnt oder gerade nicht bedeutsam erscheint? Vielleicht sogar ganz einfach aus Unachtsamkeit?

Vielleicht nicht ganz so einfach, sondern einfach, weil der Speicher voll ist. Unsere Aufmerksamkeit ist um in der Computersprache zu sprechen unser Arbeitsspeicher, der immer nur eine begrenzte Anzahl von Programmen und Datenmengen gleichzeitig verarbeiten kann, egal wie groß dahinter auch immer die Festplatte sein mag und ihr gewolltes Tempo (ihre CPU) es auch auf den ersten Blick möglich erscheinen lassen.

Vielleicht hat ja dann die Zeit des Nicht-Findens auch einen positiven Aspekt, falls wir sie zu nutzen in der Lage sind. Die Möglichkeit uns die Zeit zu nehmen, um darüber zu reflektieren, ob sich das Finden an sich überhaupt noch lohnt.

Ist es noch so bedeutsam das Verlorene oder ist das Verlorengehen nur noch das letzte Wort eines langen Briefes zum plötzlichen Abschied?

Warum vergesse, verliere ich immer genau in diesen Momenten das eine oder andere. Warum kommt es mir nicht in den Sinn?

Apropos Sinn, was passiert eigentlich mit den ganzen Besuchern, Sie wissen noch, die Sinneseindrücke, die mal wieder keine Eintrittskarte von dem beschränkten Ticketverkäufer bekommen haben und sich in ihrem Versuch ins Bewusstsein zugelangen, die ganze Zeit die Füße platt getrampelt haben?

Warum wundern wir uns nur kurz, um dann sofort mit dem Suchen wieder anzufangen. Moment, halte mal Herr Wagner, möchten Sie jetzt einwenden. Natürlich wundere ich mich im Nachhinein, später nach dem geglückten Finden oder späten Einsicht in das Nichtmehrfinden Wollens.

Ja, aber erst später, viel, viel später. Nachdem Sie rastlos wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Welt gerannt sind und völlig erschöpft in den Seilen ihrer Aufmerksamkeit hängen. Im Nachhinein hat sich manches Verlorenes als großer Gewinn gezeigt, sowohl beim etwas verlustig lassen als auch beim Wiederfinden.

Oder wie es der Dalai Lama in der ihm besonderen Art auszudrücken pflegt:

Nicht zu bekommen was man will, ist manchmal ein großer Glücksfall.

Am Mittag

…. „ Du bist die geborene Finderin. Noch nie ist mir jemand begegnet, der findet wie du: ohne zu suchen. Wie machst du das?“

Sie, Belehrung spielend:

„Nicht den Platz fixieren, an welchem vermutlich etwas verlorengegangen ist. Vielmehr: woandershin schauen, auch hinauf zum Himmel – denn danach zeigt sich das Nähere, das am Boden, umso schärfer. Doch schauen nicht im Stillstand, sondern in der Bewegung, im Gehen. Und am klarsten lassen die Dinge sich dann sehen, sooft du so im Gehen auf dem Fuß umkehrst, klar und vor allem farbig – in den Umkehrfarben. Und in den Umkehrfarben, da wird es dann warm werden, wärmer, heiß, ganz heiß. Und finden wirst du dein dir entfallenes Ding kaum in dem angegeben Umkreis, sondern eher nebenan, oder eher weiter weg, und noch weiter. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm? Weit vom Baum fallen manche Äpfel. Weit. So weit. Keine andere Möglichkeit, als das Suchen zwischenzeitlich zu vergessen. Nichtfinden reinigt. Zwischenzeit, Reinigungszeit! Ab jetzt ist diese Zwischenzeit vorbei, vorläufig zumindest, für unsere Geschichte jedenfalls.“

Sie war dabei in einen Singsang gekommen, und endlich, ohne Übergang, in einen Gesang, und er sagte darauf: „Eine Sängerin im Haus, das habe ich mir manchmal vorgestellt.“ – Sie: „Und wie war die Vorstellung?“ – Er: „Schön. Nur hat diese Sängerin in meiner Vorstellung nie gesungen – jeden falls nicht hier im Haus.“

Unversehens zog sie darauf den Dolch. Einen Dolch? Ja. Aber es war nur zum Schein. Sie wird ihn wieder einstecken.

Und er dann: „ All die Zeit, Jahre, Jahre habe ich gedacht, ohne zu wissen, wen ich damit meinte: Finde mich! Finde mich! Warum findest du mich nicht? Und jetzt hast Du mich gefunden. – Und das verlorene Kind? Warum hast du dich nicht schon längst auf die Suche gemacht?“ – Und sie, wieder in ihrem Singspiel:

„ Das Finden, es geschieht entweder im Augenblick, im Handumdrehen, oder erst viel, viel später! In der Zwischenzeit: kein Finden möglich. Zwischenzeit, SCHRECKENSZEIT, Zeit der Verlorenheit, der allgemeinen. Keine andere Möglichkeit, als das Suchen zwischenzeitlich zu vergessen.

Nichtfinden reinigt. Zwischenzeit, Reinigungszeit!

Ab jetzt ist diese Zwischenzeit vorbei, vorläufig zumindest, für unsere Geschichte jedenfalls ……“

(Peter Handke, Kalii, Suhrkamp 2007)

Am Abend

Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,
Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung,
Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat,
Und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet,
Seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft.
Aber die Freunde rettet‘ er nicht, wie eifrig er strebte;
Denn sie bereiteten selbst durch Missetat ihr Verderben:
Toren! welche die Rinder des hohen Sonnenbeherrschers
Schlachteten; siehe, der Gott nahm ihnen den Tag der Zurückkunft.
Sage hiervon auch uns ein weniges, Tochter Kronions.

(Homer, Odysee)

Geht uns nur die Zeit verloren oder verlieren wir uns in der Zeit? Oder schlimmer noch verlieren wir uns mit der Zeit selbst?

Auch in seinem Roman „Kali – Ein Wintermärchen“, aus dem ich ihnen heute Mittag eine kleine Passage über das Finden zum Lesen mit auf den Weg gab, folgt Peter Handke einer langen abendländischen Erzähltradition, der Epen der des Lebens, die von dem Aufbruch, des Erweckens, der Irrfahrt, Suche und der anschließenden Heimkehr erzählen.

Die Abenteuer des Odysseus, von Homer in der Odyssee vor mehr als 2500 Jahren erzählt, haben von ihrer Bedeutung und Gleichnis für unser menschliches Leben nichts an Bedeutung verloren. Eine kleine Episode aus dem Leben des Odysseus gerät hierbei immer wieder in Vergessenheit, die ich in ihrer Bildhaftigkeit doch sehr bezeichnend für das Thema des Aufbruchs des Verlusts ansehe.: Als Paris Helena entführte und Odysseus nunmehr auch seine Heimat verlassen sollte, um nach Troja in den Krieg zu ziehen, stellte sich unser Held wahnsinnig und begann mit einem Ochsen und einem Pflug die Felder zu pflügen und säte Salz aus. Es war dann Palamedes, der den kleinen Sohn des Odysseus Telemach vor den Pflug spannte und den Irrsinn des Odysseus beendete.

Irrsinn hin oder her. Kinder und Narren erzählen die Wahrheit und beiden ist eins gemeinsam, dadurch dass sie die Wirklichkeit durch ihr „verrücktes“ Verhalten fragwürdig machen, öffnen sie dem lachenden Auge, den Blick auf das vor uns liegende und der Abstand zwischen Tragödie und Komödie ist immer nur ein Fingerzeig entfernt. Oder wie Karl Marx in Bezug auf Hegel anmerkte: „Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“

Abschied, Aufbruch und Verlust sind immer von Trauer begleitet. In diesen Augenblick wird uns von außen die Vergänglichkeit in aller Härte offenbar, das Selbstverständliche verliert seine Strahlkraft und wird von den Nebeln des Ungewissen und Neuen überschattet. Als Odysseus Salz sät, ist es seine Vorahnung des Meeres voller Tränen, das ihn auf seiner zukünftigen Reise begleiten wird. Doch das neue Leben, das vor uns liegende, zwingt uns zum Vorwärtsgehen, die Bedeutung des Lebens, das immer wieder jung erstrahlt, bedarf der Anstrengung des Sich-Einlassens, der Bereitschaft, offen zu sein für das Neue, die neuen Wege und Möglichkeiten, die immer auch, wenn auch für uns in diesen nicht leichten Momenten verborgen, den Abschied vom Alten begleiten.

Jeder von uns kennt die eine oder andere Geschichte aus seinem Leben, die auf die eine oder andere Weise der des Odysseus zu gleichen scheint.

An einem Punkt in unserem Leben machen wir uns auf den Weg, ob dieses auf den Weg begeben nun durch biographische und/oder biologische Abschiede begründet ist. Betrachten Sie beispielsweise unser Erwachsenwerden, die Übergänge von der Kindheit über die Pubertät und die folgenden. Unser Leben ist ein einziger Zyklus des Findens und Wiederfindens, unterbrochen von Momenten des Abschieds, der Niemandszeit und der Ungewissheit. In diesen Augenblicken verlieren wir unser Einssein, unsere Ganzheit. Der eine oder andere Teil scheint in der Vergangenheit zu verharren, während der andere bereits durch die Wirren des Neuen taumelt. Ernst Bloch nannte dieses Phänomen in anderem Zusammenhang die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, die es auszuhalten gilt und deren Erkenntnisse uns viele Hilfen auf dem Weg des Lebens bereit halten. Es gibt eine Gruppe von Menschen, Schmuggler in den unterschiedlichsten Ausprägungen, die wahre Meister darin sind, Verbotenes über die natürlichen Grenzen hinweg zu transportieren, von denen wir einiges über die Rettung von scheinbar Unmöglichem lernen können, über den dritten Weg. Doch hiervon an anderer Stelle mehr. Viele gehen sich leider für ihr folgendes Leben verloren und ihre Einsheit erscheint ihnen nur noch in kurzen Sekundenbruchteilen als eine Reliquie aus längst verlorener und vergangener Zeit.

Doch wie finden wir uns wieder ein? Wie finden wir das Verlorene wieder oder finden das Neue, das uns in seiner neuen Form das Alte verwandelt und uns trotz alledem heimkehren lässt, zu uns, zu den Unsrigen und unserem Lebensgefühl?

Besinne dich!

Komm zu Sinnen!

Aufforderungen, die die in unsrem Kontext des Findens und Wiederfindens eine ganz besondere Wendung bekommen. Was passiert eigentlich mit den ganzen Sinneseindrücken, für die unsere Aufmerksamkeitskapazität nicht ausreicht, Sie wissen noch, die Kollegen aus der Schlange von heute morgen, die keine Eintrittskarte bekommen haben?

Auch diese Freunde werden erst einmal abgespeichert, dass heißt sie bleiben in der Warteschleife zum Bewusstsein. Manchmal schaffen sie es in einem zweiten, dritten Anlauf, oder dann erst viel, viel später. Bis dahin machen sie es sich im Gedächtnis bequem und spielen uns von Zeit zu Zeit einen kleinen Schabernack. Tauchen mal hier und da auf. In einem Traum oder sonst wo, wo sie auf den ersten Blick nicht hinzugehören scheinen.

Auch sie sind also erst einmal weg, etwas Verlorenes. Unser Gedächtnis verliert jedoch nichts, behauptete einmal ein bekannter amerikanischer Neurologe und verglich unser Gedächtnis mit einer riesigen Bibliothek und das Verlorene, als ein einzelnes Buch, an dessen Platz in der großen und weiträumigen Bibliothek, an dem wir es abgestellt haben, wir uns einfach nicht mehr erinnern. Das Irrwitzige daran ist jedoch, meist kennen wir die Systematik der eigenen Bibliothek noch nicht einmal. Denn unser Gedächtnis ist kein Zettel- oder Karteikasten, der nach unseren geläufigen und vernünftigen Ordnungsschemata aufgebaut ist, in dem alle Fakten alphabetisch nach Wissengebieten sortiert abgelegt sind.

Unser Gedächtnis sortiert episodisch, d.h. es werden ganze Erlebnisstränge, Kurzfilme komplett abgespeichert. Dabei kann dann der Kamm auch mal nicht nur sprichwörtlich neben der Butter liegen, solange er in den Erzählstrang der Geschichte eingebunden ist. Wir speichern, also unsere Eindrücke in einem örtlichen, zeitlichen und sinnlichen Rahmen. Überprüfen Sie das mal anfänglich zur Übung an Musikstücken aus ihrer Teenagerzeit. Einmal in die eine Richtung von der Situation auf die Musikstücke oder umgekehrt. Ich denke Sie wissen aus eigener Erfahrung wovon ich spreche. Menschen, die enorme Gedächtnisleistungen zeigen, nutzen alle diese Besonderheit unseres Gehirns und binden die Informationen daher in Erzählstränge ein. Hinzu kommt die Grundvoraussetzung des Erinnerns, unser Gefühl: Informationen, die uns auf die eine oder andere Art und Weise nicht emotional bewegen – nach dem Motto: das tangiert mich nicht einmal peripher – gelangen nicht in die geheiligten Halle unseres Erinnerns.

Ich denke, dass diese menschliche Grundfunktion des Erinnerns, auch für das Finden und Wiederfinden im Allgemeinen – und nicht nur des Vergessenen – bezeichnend ist.

Suchen wir nicht häufig nur mit den Mitteln des Verstandes und beschuldigen dabei den Störenfried, der uns nicht gerade seine Schokoladenseite zeigt, in diesen ersten Momenten der Niemandszeit? Wie sollten wir dem Störenfried Gefühl auch jetzt noch im folgenden Prozess des Suchens vertrauen können?

Wir werden schier verrückt, verrückt aus der Mitte, der Einsheit aus Gefühl und Verstand, wir martern unseren Kopf in einem fort und umso mehr wir uns anstrengen, umso weniger scheint es uns zu gelingen. Suchen wir am richtigen Platz, das noch bedeutsame, das lohnende? Unser Gefühl könnte uns da eine große Hilfe sein, es erlaubt uns das Erlebte nochmals in fast gleicher Intensität zu erleben und dabei finden sich dann wie zufällig und plötzlich die Dinge, die uns so oder in diesem Zusammenhang noch nie bewusst wurden. In dem wir Mitfühlen, den Anderen in seiner Welt mit zu fühlen versuchen, durch das Gefühl wird der Andere für uns erst verständlich, d.h. wir können ihn uns nachvollziehbar machen.

Vielleicht bestehen die Niemandszeiten in unserem Leben auch nur aus diesem Grund, uns den Raum zu bieten, um Dinge nachzufühlen, denen wir in der Vergangenheit zu wenig Aufmerksamkeit und Bewusstsein geschenkt haben?

Vielleicht wundern wir uns auch einfach zu wenig?

In der Nacht

„Was uns immer wieder wundert, ist, dass ihr euch so wenig wundert. Wir sind nur die Begleitung, doch wenn wir selbst richtig leben dürften, würden wir uns mehr Zeit für die Meditation nehmen. Eines der Dinge, die wir nicht verstehen können, ist, wie schlecht ihr in euer eigenes Dasein passt, ohne dass ihr darüber nachdenkt. Und dass ihr euch so wenig klarmacht, über welch unendliche Möglichkeiten ihr verfügt. Nein, keine Sorge, wir werden diese Geschichte nicht zu oft unterbrechen. …

Was wir aber meinten, ist folgendes: Ihr seid zwar sterblich, doch die Tatsache, dass ihr mit diesem einen winzigen Hirn über die Ewigkeit nachdenken könnt oder über die Vergangenheit und dass ihr dadurch, mit dem begrenzten Raum und der begrenzten Zeit, die euch gegeben ist, so unermesslich viel Raum und Zeit einnehmen könnt, darin besteht das Rätsel. Stück um Stück kolonisiert ihr, zumindest sofern ihr es wollt, Epochen und Erdteile. Ihr seid die einzigen Wesen im gesamten Universum, die dazu in der Lage sind, und das ausschließlich, indem ihr denkt. Ewigkeit, Gott, Geschichte, das alles sind eure Erfindungen, es ist soviel, dass ihr euch darin verirrt habt. Alles ist echt und zugleich Illusion, damit lässt sich tatsächlich schwer leben. Und als wäre das noch nicht genug, habt ihr auch diese sich fortwährend verändernde Vergangenheit, mit der die Gegenwart euch belästigt. Helden, die eine Generation später schon wieder Verbrecher sind, solche Dinge, als explodierte die Zeit hinter euch in einem fort.

Ihr müsst euch gegen den Strom der Zeit stemmen, um etwas mehr zu erfahren, und gleichzeitig müsst ihr voran. Daher kommt ihr auch nirgendwo an.

Und wer wir sind? Sagen wir vielleicht der Chor. Irgendeine registrierende Instanz, die etwas weiter schauen kann als ihr, allerdings ohne Macht zu besitzen, auch wenn es so ist, dass das, was wir verfolgen, erst durch unser Hinschauen entsteht…

Das gehört zu euren Begrenzungen, und vielleicht ist es auch besser so.

(Cees Nooteboom, Allerseelen, Suhrkamp 2000)

Zum Autor:

Ulrich B. Wagner, Jahrgang 1967, studierte Psychologie, Soziologie und Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang von Goethe Universität in Frankfurt am Main.

Er ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Kommunikation, Coaching und Managementberatung (ikcm) mit Sitz in Bad Homburg und Frankfurt am Main und gleichzeitig Dozent an der european school of design für Kommunikationstheorie sowie Werbe- und Konsumentenpsychologie.

Ulrich Wagner arbeitet als Managementberater und systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikations- und Rhetoriktrainings, Personalentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

Zu erreichen: via Website www.ikcm.de, via Mail uwagner@ikcm.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).

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