Transparenz und Geheimnis in Zeiten von Facebook & Co.

… aus der wöchentlichen Kolumne „QUERGEDACHT & QUERGEWORTET  – Das Wort zum Freitag“ von Ulrich B Wagner. Nach „Ich hasse dich, ich brauche dich … Über den neuen Umgang in deutschen Unternehmen“ folgt heute: „Zeige dich, verberge dich … Über Transparenz und Geheimnis in Zeiten von Facebook & Co.“.

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Das Erotische setzt das Geheimnis voraus. Wo es ganz verschwindet, beginnt die Pornografie.
Byung-Cul Han, 2011

Niemand ist für sich allein. Er verbreitet den Unsinn auch in seiner Umgebung.
Lucius Annaeus Seneca, 44 n.Chr.

Das Geheimnis – das durch positive oder negative Mittel getragene Verbergen von Wirklichkeiten – ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit. Gegenüber dem kindischen Zustand, in dem jede Vorstellung sofort ausgesprochen wird, jedes Unternehmen allen Blicken zugänglich ist, wird durch das Geheimnis eine ungeheure Erweiterung des Lebens erreicht, weil viele seiner Inhalte bei völliger Publizität überhaupt nicht auftauchen könnten.
Georg Simmel, Das Geheimnis – eine sozialpsychologische Studie, 1907

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So alt wie die Menschheit

Ulrich Wagner
Facebook & Co. stellen das Spannungsverhältnis zwischen Transparenz und Geheimnis erneut in Frage. (Foto: © Ulrich B. Wagner)

Die Ambivalenz und das damit verbundene Spannungsverhältnis des sich offenbaren und des sich verbergen, ihre Herausforderungen, Ängste und Möglichkeiten menschlicher als auch zwischenmenschlicher Tragödien ist kein Phänomen des Internetzeitalters. Dieses Thema ist so alt wie die Menschheit und zudem ein existentieller Teil unseres Erwachsenwerdens.

Kein anderer als der deutsche Soziologe Georg Simmel hat dies so eindrücklich auf- und nachgezeichnet. Nichts Neues also unter der Sonne, die ewige Wiederkehr des Gleichen, eine unendlich sich im Kreise drehende Wirklichkeit (vgl. Nietzsche)? Womit wir dann wohl schon am Ende meiner heutigen Kolumne und der damit verbundenen Überlegungen und Fragen sind.

Oder doch nicht?

Manchmal ist es vielleicht doch der zweite Blick, das erneute Lesen, Wiederlesen, das uns persönlich, aber auch die Art und Weise des Miteinanders verändern und wachsen lässt. Doch noch einmal von vorne.

Auf der einen Seite leben wir im Zeitalter der (totalen) Transparenz. Wir fordern sie von anderen ein, tragen sie wie eine Monstranz vor unserem inneren Auge, verabscheuen das Geheimnis, schieben es in die Ecke des Verwerflichen, der Lüge, des Betrugs oder ähnlichem. Auf der anderen Seite macht Transparenz uns Angst. Angst in ihrer Totalität und dem damit verbundenen Ausgeliefertsein an dieses gnadenlose, über alle Grenzen der Diskretion und Menschwürde hinausgehende Aus- und Durchleuchtetsein.

Transparenz. Ein Instrument der Kontrolle und Überwachung

Wo bleiben sie heute, die lebenswichtigen und persönlichkeitsstiftenden Rückzugsräume? Es war der eingangs zitierte deutsche Professor für Philosophie und Medientheorie, Byung-Chul Han, der in einem Interview für brand eins (Titel: „Wir sehen alles, aber was verändert das?“, 2001) auf die Wurzel dieses für uns so leichtfertig verwendeten Begriffs der Transparenz hinwies: „Der Begriff setzt sich aus den lateinischen Wörtern trans und parere zusammen. Parere bedeutet ursprünglich, auf jemandes Befehl erscheinen, sichtbar sein. Das Wort parieren bedeutet auch: ohne Widerspruch gehorchen. Im Moment scheint die Transparenz tatsächlich diesen Zwangscharakter angenommen zu haben. Sie erscheint mir wie ein Instrument der Kontrolle und Überwachung.

Wo bleibt das Geheimnis?

„Welches Geheimnis?“, möchten Sie an dieser Stelle fragen und darauf hinweisen, dass es doch gerade hierdurch erhöht würde. DIE ZEIT hat sich bereits 2011 gefragt, ob sich die Beteiligten in den Sozialen Netzwerken letztendlich eine künstliche Identität schaffen, die mit ihrem »Offline«-Verhalten nur wenig zu tun hat? Der Benutzer erschaffe auf den Seiten fast spielerisch einfach nur ein geschöntes, idealisiertes Bild seiner selbst, um am Ende dann doch eindringlich auf die Gegenthese hinzuweisen, dass wir unsere Persönlichkeit einfach auf die Sozialen Netze ausdehnen. Frei nach dem Motto: Zeige mir Dein Facebook-Profil, und ich sage Dir, wer Du bist. (vgl. DIE ZEIT, Forschen mit Facebook, 2011).

Wie viel geht uns hierdurch verloren, persönlich, aber auch in der Qualität des Zusammenlebens, privat, aber auch im Berufsleben? Denn die totale Offenlegung birgt nicht nur eine Gefahr, sondern bedeutet am anderen Ende auch eine totale Starre. Sie ist der Sensenmann der Lebendigkeit.

Wir brauchen das Geheimnis

Denn nicht nur die Verführung, der erste erotische Moment des Kennenlernens, beruht auf dem Geheimnis, sondern unser ganzes Leben, unser Miteinander, unsere Zufriedenheit, unser Liebes- und Lebensglück, ist ein existentieller Bestandteil des Geheimnisses. Oder wie Georg Simmel es ausdrückte:

Da liegt denn die Chance nahe, dass man sich eines Tages mit leeren Händen gegenübersteht, dass die dionysische Schenkseligkeit eine Verarmung zurücklässt, die noch rückwirkend – ungerecht, aber darum nicht weniger bitter – sogar die genossenen Hingaben und ihr Glück Lügen straft. Wir sind nun einmal so eingerichtet, dass wir nicht nur einer bestimmten Proportion von Wahrheit und Irrtum als Basis unseres Lebens bedürfen, sondern auch einer solchen von Deutlichkeit und Undeutlichkeit im Bilde unserer Lebenselemente. Was wir bis auf den letzten Grund deutlich durchschauen, zeigt uns eben damit die Grenzen seines Reizes und verbietet der Phantasie, ihre Möglichkeit darin zu weben, für deren Verlust uns keine Wirklichkeit entschädigen kann“ (Georg Simmel, Psychologie der Diskretion, Aufsätze und Abhandlungen, 1906).

Mir persönlich macht die Vernichtung der Rückzugsräume, die totale Überwachung, das Absaugen von Daten, vertraulichen und weniger vertraulichen, nicht nur Angst, sondern es zeigt mir auch den enormen Verlust an Vertrauen, an Respekt, Diskretion und Wertschätzung.

Ich bin kein ewig Gestriger

Dies und vieles andere, aber auch handfeste Abhörskandale gab es bei Gott zu allen Zeiten, wie es das Beispiel des italienischen Anarchisten Guiseppe Mazzini zeigt, der, um die Verletzung des Briefgeheimnisses öffentlich zu machen, Sand, Haare und Mohnsamen in Briefumschläge steckte, die er anschließend mit Wachs versiegelte und an sich selbst versendete, um am Ende feststellen zu müssen, dass sie leer waren. Ein enormer Skandal im England des Jahres 1844.

Ich bin kein ewig Gestriger, ich liebe die Vorzüge des Internets. Aber ich denke, es ist einfach einmal wieder an der Zeit, auf das Recht des Geheimnisses hinzuweisen und uns selbst deutlich an der Nase zu packen und zu fragen, was und wem wir welche Informationen in welcher Form kundtun oder auch nicht. Wir müssen deshalb unsere Handys nicht gleich in die Mülltonne werfen oder unsere Computer aus dem Netz ziehen und anschließend in unsere Schlafzimmerwand einmauern, um ein mehr an Privatheit und persönlichem Rückzug zu erreichen.

Eine der größten Errungenschaften des Lebens

Es geht letztendlich, neben aller Abhörskandale und Datenlecks, wohl auch sehr viel um unsere ganz eigene Selbstbeherrschung und das Verständnis der enormen Bedeutung des Geheimnisses für unser Leben.

Denn das Geheimnis ist und bleibt, Fortschritt hin oder her, eine der größten Errungenschaften des Lebens. Ohne Geheimnisse gäbe es uns nicht als Person, keine Kultur, keine Erotik, keine Freundschaft, kein Vertrauen und auch keine Liebe.

Lassen Sie mich dahingehend nochmals abschließend Georg Simmel zitieren:

Die fruchtbare Tiefe der Beziehungen, die hinter jedem geoffenbarten Letzten noch ein Allerletztes ahnt und ehrt, die auch das sicher Besessene von neuem zu erobern reizt, ist nur der Lohn jener Zartheit und Selbstbeherrschung, die auch in dem engsten, den ganzen Menschen umfassenden Verhältnis noch das innere Privateigentum respektiert, die das Recht auf Frage durch das Recht auf Geheimnis begrenzen lässt.“ (George Simmel, Psychologie der Diskretion, 1906)

In diesem Sinne wünsche ich uns allen mehr Selbstbeherrschung angesichts der Versuchungen der digitalen Kommunikationsmöglichkeiten und das Vertrauen in die Macht des Geheimnisses.

Entspannte Osterfeiertage wünscht Ihnen Ihr

Ulrich B Wagner

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Über Ulrich B Wagner:

Ulrich B Wagner
(Foto: © Ulrich B. Wagner)

Ulrich B Wagner (Jahrgang 1967) ist Diplom-Soziologe, Psychologe, Schriftsteller und Kolumnist. Sein Studium der Soziologie, Psychologie & Rechtswissenschaften absolvierte er an der Johann Wolfgang von Goethe Universität, Frankfurt am Main. Zusammen mit Professor Karl-Otto Hondrich arbeitete er am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an einer Reihe von Forschungsprojekten zum Thema  „Sozialer und kultureller Wandel“.

Ulrich B Wagner ist Dozent an der european school of design in Frankfurt am Main mit dem Schwerpunkt  Kommunikationstheorie, Werbe- und Konsumentenpsychologie, sowie Soziologie und kultureller Wandel und arbeitet als Berater sowie systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikation und Konzeptentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

Zu erreichen: via Mail ulrich@ulrichbwagner.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).

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