Über die Hysterie der Masse und die Deppen der Nation

… aus der wöchentlichen Business-Kolumne von Ulrich B Wagner mit dem Titel „Me, myself and I – eine Reise in sich hinein und über sich hinaus„.

Heute: Die Hysterie der Masse
und die Deppen der Nation…

Die politischen Führer bzw. Regierungen verdanken ihre Stelle teils der Gewalt, teils der Wahl durch die Masse. Sie können nicht als eine Vertretung des geistig und moralisch höherstehenden Teiles der Nationen angesehen werden.
Albert Einstein, Mein Weltbild

Das Gesellschaftsbild, Politikbild und Menschenbild der Piraten, ist manchmal so stark von der Tyrannei der Masse geprägt, dass ich mir das als Liberaler nicht wünsche, dass dieses Politikbild sich durchsetzt….
Patrick Döring, FDP Generalsekretär am Sonntagabend in der Berliner Runde

Es mache ihm Sorgen, so Döring laut SPIEGEL ONLINE weiter, dass unter dem Schutz der Anonymität im Netz eine Diskussionskultur entstehe, „die den Eindruck erweckt, dass wir alle, die wir hier in Parlamenten Arbeit machen – und zwar egal in welcher Regierungskonstellation – die Deppen der Nation wären.“

Einverstanden, der FDP Generalsekretär sprach von der Tyrannei der Masse, nicht von der Hysterie der Masse, doch anhand der weiterführenden Aussagen bzgl. Stuttgart 21 und sonstigen Ausführungen bzgl. des Bürgerbegehrens im Netz, ist der geistige Weg doch sehr kurz und naheliegend. Kommt hier also doch, in der Erregung des in die Rolle eine Vertreters einer Splitterpartei (1,2 % bei der Landtagswahl im Saarland) verwandelten Politerkers, das wahre Demokratieverständnis zu Tage? Verhält sich die „stupide Masse“ nämlich entsprechend den Wünschen und Ansprüchen seiner von ihm vermeintlich gewählten Vertreter, so haben wir es nämlich keinesfalls mit einer Tyrannei zu tun, sondern mit einer auf der Basis freiheitlich demokratischer Grundordnung getroffenen Willensäußerung des Volkes.

Zeigt diese vermeintliche Masse jedoch dagegen eine Form des Andersdenkens, wird dies sofort als Aufmüpfigkeit empfunden, und aus dem ehemals rationalen Wahlvolk wird schnell die Stimme des Volkes, oder wie es der alte lateinische Spruch vox populi vox asini (die Stimme des Volkes ist die Stimme des Esels) auf den Punkt bringt: Die Stimme des Esels oder halt die Tyrannei der Massen.

Versteckt sich also hinter dieser unüberlegten Äußerung wirklich nur die Angst vor dem Netz, vor den Folgen internetbasierter Kommunikation und freierer, leichterer Diskussions- und Willensäußerungen für die die Piratenpartei vermeintlich steht, oder doch viel mehr?

Natürlich sind weder Döring noch die meisten anderen Parteipolitiker undemokratisch, wie sich auch Sascha Lobo im SPIEGEL äußerte, und doch stellt sich für mich an dieser Stelle die längst überfällige Frage, wie sich Demokratie, Mitsprache und Offenheit im gesellschaftlichen Zusammenleben in Zukunft (aus)gestalten soll.

Wie weit haben sich Wähler und Politik voneinander in ihrer Lebenswirklichkeit, ihren Ansichten, Werten und Zukunftserwartungen tatsächlich entfernt? Reicht es aus, alle paar Jahre zwischen dem vermeintlich geringsten Übel zu wählen und dazwischen doch bitte gefälligst die Klappe zu halten und sich insbesondere aus Detailfragen geflissentlich rauszuhalten?

Es steht auch außer Frage, dass sich im Internet ein Haufen surrealer Diskussionen und Äußerungen anhäufen und finden lassen. Doch gilt dies nicht für alle Kommunikationsmedien in gewisser Form?

Es ist daher wie mit dem Besen aus Goethes Zauberlehrling: Alle nutzen die Chancen, die dieses günstige und schnelle Kommunikationsmedium bereithält. Doch wehe wenn…!

Dies ist bestimmt die eine Seite der Medaille, doch auf der anderen zeigt sich auch eine Form der Verdrossenheit, der Enttäuschung angesichts hohler Phrasen, markiger Versprechungen und Polarisierungen. Dies gilt nicht nur in der derzeitigen Politik, mit seinen Enthüllungen und Enttäuschungen von zu Guttenberg bis hin zu Christian Wulff und anderen, sondern auch für Unternehmen und ihre Formen der Unternehmenskommunikation und Mitarbeiterführung.

Wie ernst ist es uns wirklich mit mündigen Bürgern, selbständig und unternehmerisch denkenden Angestellten? Ist es am Ende doch nur Opium für das einfache Volk, wie viele schon seit langem vermuten und schmerzhaft feststellen müssen?

Es sind meines Erachtens unübersehbare Zeichen der Zeit: Auf der einen Seite die Politikverdrossenheit, die sich in einer landauf und landab geringen Wahlbeteiligung manifestiert, und einer Form der inneren Emigration vieler Mitarbeiter in Unternehmen. Da helfen auch keine markigen Sprüche, Hochglanzpräsentationen und Mitarbeitermotivationstrainings, denn diese kehren sich zwangsläufig in ihr Gegenteil um.

Gerade in krisengeschüttelten Zeiten sind andere Persönlichkeiten gefragt, sowohl in der Politik, als auch in der Wirtschaft, die sich insbesondere durch Offenheit, Nähe, Authentizität und eine transparente Streit- und Kommunikationskultur auszeichnen. Es ist eine junge und keinesfalls hysterische Generation, die hier andere Werte einfordert und den größten Teil der Unterstützer der Piratenpartei ausmacht. Sie kommuniziert anders, sie verabredet und organisiert sich anders, und das ist auch gut so. Ich will die Risiken nicht ausblenden, doch liegen gerade hier auch enorme Chancen, überkommene Machtverständnisse grundlegend im Sinne eines gemeinschaftlichen, offenen und transparenten Miteinanders zu überdenken. Es geht daher weniger um die Deppen der Nation, als um ein faires und lösungsorientiertes Miteinander.

In diesem Sinn wünsche ich uns eine offenere Einstellung zu einer noch neuen und anderen Diskussionskultur.

Ihr Ulrich B Wagner

Zum Autor:

Ulrich B. Wagner, Jahrgang 1967, studierte Psychologie, Soziologie und Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang von Goethe Universität in Frankfurt am Main.

Er ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Kommunikation, Coaching und Managementberatung (ikcm) mit Sitz in Bad Homburg und Frankfurt am Main und gleichzeitig Dozent an der european school of design für Kommunikationstheorie sowie Werbe- und Konsumentenpsychologie.

Ulrich Wagner arbeitet als Managementberater und systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikations- und Rhetoriktrainings, Personalentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

Zu erreichen: via Website www.ikcm.de, via Mail uwagner@ikcm.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).

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