Vergessen ist eine Gabe – über das Loslassen

Vergesslichkeit wird als Makel angesehen, wenn wir etwas vergessen, dann betrachten wir das als Fehler. Falsch, meint Ulrich B Wagner: Denn wie Studien zeigten, ist das Vergessen eine Fähigkeit, die ebenso wie das Erinnern mit steigendem Alter abnimmt. Wer nicht vergessen kann, belegt „Speicherplatz“ mit Unnötigem und verpasst damit die Chance, Neues zu lernen. Gleiches gilt natürlich auch für unser Leben im Allgemeinen: Wer sich nicht von Altem trennen kann, hat keinen Platz für Neues.

In seiner heutigen Kolumne „QUERGEDACHT & QUERGEWORTET – Das Wort zum Freitag“ versucht uns Ulrich B Wagner eine positive Sicht auf das Vergessen zu zeigen.

Vergessen ist eine der wichtigsten intellektuellen Leistungen. Ein Zuviel an Erinnern ist falsch, macht krank und unglücklich – und vor allem behindert es jede Form von Entwicklung.


Hans J. Markowitsch, dt. Psychologe

Vergessen ist Gefahr und Gnade zugleich

Theodor Heuss

Vergessen können ist das Geheimnis ewiger Jugend.
Wir werden alt durch Erinnerung.

Erich Maria Remarque

Vergessen – wirklich ein Makel?

Vergessen. Gnade oder Pein? Zeit unseres Lebens wird uns das Vergessen als ein Makel, eine Schande verkauft. Vergessen? Vergiss es!!! Sollte unser Gedächtnis gar einige Informationen von Zeit zu Zeit auf Nimmerwiedersehen ins weite, ruhige Land des Vergessens verschwinden lassen, gilt dies der landläufigen Meinung nach sofort als schlecht. Modische, hyperaktive, pomadige Gedächtnistrainer wollen in ihrer Einfältigkeit gar unser Oberstübchen zu Fitnessstudios aufrüsten. Nur ein durchtrainiertes, fittes Gedächtnis gilt als ein „gutes“ Gedächtnis. Vergessen gilt dagegen immer noch als Feind des Lernens, als Schwäche, Alterserscheinung und in seiner schlimmsten Ausprägung gar als Krankheit.

Vergessen gehört zum Lernen

Und nun das: Vergessen ist nach neuester Erkenntnis ein hoch konstruktiver Akt unseres Gehirns. Verhaltensforscher zeigen uns, dass das Nichtmehrwissen auch große Vorteile bringt. Denn wer Unnützes umgehend wieder loslässt, schafft Speicherplatz für Wichtiges. „Die Fähigkeit vergessen zu können“, betont der Göttinger Entwicklungspsychologe Marcus Hasselhorn, „ist eine essenzielle Grundfunktion des menschlichen Gedächtnisses.“

Vergessen gehört untrennbar zum Lernen. Ohne Vergessen kein Lernen, keine Weiterentwicklung, keine Einsicht, kein Fortkommen, keine Ruhe, kein Wohl.

Vieles in unserem Kopf scheint schiefzulaufen. Immer noch sind wir überzeugt, dass das Vergessen zu großen Teilen auch ein Altersproblem ist. Je älter, desto vergesslicher, repituiert der Volksmund gebetsmühlenartig diese scheinbare alltägliche Weisheit.

Experiment zeigt: Vergessen ist eine Fähigkeit des Gehirns

Doch sieh da, die Wirklichkeit sieht komplett anders aus: Der Doktorand Jörg Behrendt konnte vor einiger Zeit in einem interessanten Versuch demonstrieren, dass sich ältere Menschen vor allem deshalb schlechter erinnern können, weil sie weniger gut vergessen können. Um diese paradoxe Erkenntnis zu untermauern, lud Behrendt zwei Gruppen von Probanden in sein Labor ein. Zum einen Studenten zwischen 20 und 35, zum anderen Ältere zwischen 60 und 75 Jahren. Sie wurden gebeten, sich an verschiedene Wörter zu erinnern, die ihnen an einem Computer präsentiert wurden. Nachdem 16 Wörter über den Bildschirm geflimmert waren, behauptete Behrendt plötzlich, nun sei der Computer leider abgestürzt. Der Versuch müsse mit neuen Wörtern wiederholt werden. Die alte Liste sei also bitte zu ignorieren. Die Göttinger Testpersonen versuchten, die alten Wörter absichtlich zu vergessen und sich stattdessen die neuen zu merken. Nach einiger Zeit bat Behrendt seine Probanden aber, sich nun doch an alle Wörter zu erinnern und sie zu notieren. Erwartbar wäre, dass dabei die „vergessenen“ Wörter schlechter memoriert warden, als die danach gelernten. Das war bei den jüngeren Versuchspersonen tatsächlich der Fall. Bei den Alten dagegen stellte der Forscher keinerlei Unterschied fest. Sie speicherten alle Wörter gleich – und zwar gleich schlecht. Sie konnten offenbar, trotz Aufforderung, die erste Wörterliste nicht vergessen und sich daher die zweite Liste schlechter merken.

Wer nicht vergisst, hat keinen Platz für Neues

So wie es aussieht, speichern unsere ältere Herrschaften nämlich auch fleißig irgendwelchen “Plunder” in ihrem teilweise limitierten Hirnstüberl und versperren so aktiv den Weg für brauchbares Mobiliar.

Aber kommt uns dies nicht doch sehr bekannt vor? Wir klammern und an allem, an Gott und der Welt, fest. Nur nichts loslassen, wegwerfen, vergessen, gar eliminieren. Unser Gefühl der Enge, der Unaufgeräumtheit ist nicht dem mangelnden Platz geschuldet. Einem Menschen mit diesen Tendenzen mehr Platz zu geben, bedeutet am Ende des Tages nur noch mehr Raum für unnütze Sch… die als bedrohliche Nebenwirkung noch dafür sorgt, dass das, was wir wirklich brauchen, Klarheit, Handlungsbereitschaft und freie, leere Räume damit unser Geist fliegen kann, keine Möglichkeit mehr hat, bei uns einzuziehen.

Unaufgeräumte Wohnungen, Herzen und Köpfe haben mit zwischenmenschlichen Beziehungen in der Regel immer eines gemein: Es sind die kleinen Dinge, die nerven, einengen und für Chaos sorgen.

Wir häufen zuviel Unnützes an

Der FOCUS hat in seiner jüngsten Ausgabe darauf verwiesen, dass nach aktuellen Erhebungen ein deutscher Haushalt im Schnitt 10.000 Einzeldinge in seinen Wohnräumen anhäuft. Gerade mal 500 davon sind jedoch in Wirklichkeit in alltäglichem Gebrauch. Wir benötigen demnach allen Ernstes gerade mal fünf Prozent der Dinge, mit denen wir uns faktisch umgeben. Der Rest ist Müll, dessen einzige Daseinsberechtigung darin besteht, unser Leben zu verstopfen. Diese Fünf-Prozent-Regel kann auf fast alles angewandt werden. (Auch ich werde mir am Wochenende nochmals die Mühe machen, zu überlegen, auf welche Lebens- und Gefühlsbereiche ich diese noch übertragen kann.) Nur fünf Prozent der täglichen Informationen sind wirklich relevant, nur fünf Prozent der Meetings zielführend, nur fünf Prozent der E-Mails des Lesens, geschweige denn einer Antwort würdig, nur fünf Prozent unserer Bücher oder DVDs werden wir jemals wieder ansehen, und nur fünf Prozent unserer Bekannten könnten vielleicht potenzielle Freunde sein.

Mut zur existenziellen Entrümpelung!

Wir müssen Vergessen lernen, und wir brauchen mehr Mut zur existentiellen Entrümpelung, wenn wir wirklich leben und uns nicht ständig selbst alles verstellen wollen. Dass ältere Menschen so schlecht vergessen können und sich dadurch auch so schlecht Neues merken können, ist nicht dem Alter geschuldet, sondern einer alten deutschen Tugend: NICHTS WEGWERFEN ZU KÖNNEN.

Es gibt vieles im Leben, das man soweit es geht, wegwerfen sollte, um es nicht mehr zu sehen und es dann eines Tages hoffentlich vergessen zu können, um dem Neuen das passende Entrée zu verschaffen.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen mehr Mut zum Vergessen.

Ihr
Ulrich B Wagner

Ulrich Wagner
QUERGEDACHT & QUERGEWORTET – Das Wort zum Freitag (Foto: © Ulrich B. Wagner)

Über Ulrich B Wagner

Ulrich B Wagner (Jahrgang 1967) ist Diplom-Soziologe, Psychologe, Schriftsteller und Kolumnist. Sein Studium der Soziologie, Psychologie & Rechtswissenschaften absolvierte er an der Johann Wolfgang von Goethe Universität, Frankfurt am Main. Zusammen mit Professor Karl-Otto Hondrich arbeitete er am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an einer Reihe von Forschungsprojekten zum Thema  „Sozialer und kultureller Wandel“.

Ulrich B Wagner ist Dozent an der european school of design in Frankfurt am Main mit dem Schwerpunkt  Kommunikationstheorie, Werbe- und Konsumentenpsychologie, sowie Soziologie und kultureller Wandel und arbeitet als Berater sowie systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikation und Konzeptentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

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