Verkehrte Welt … oder der Blick hinter den Spiegel. Warum wir wieder mehr Träumen sollten

Mehr Mut zum Träumen. Das wünscht sich Ulrich B Wagner im heutigen Beitrag seiner Freitagskolumne „QUERGEDACHT & QUERGEWORTET DAS WORT ZUM FREITAG“ für uns alle. Denn wer nicht wagt zu träumen, der hinterfragt niemals was er warum eigentlich tut. Und das kann für unsere Gesellschaft das Todesurteil sein!

Die Zeit gibt die Bilder, ich spreche nur die Worte dazu, und es wird nicht so sehr mein Schicksal sein, dass ich erzähle, sondern dass einer ganzen Generation, die wie kaum eine andere im Laufe der Geschichte mit Schicksal beladen war.

Stefan Zweig, Die Welt von gestern

An einem jungen Menschen ist es in intellektueller und auch in moralischer Hinsicht ein schlechtes Zeichen, wenn er im Tun und Treiben der Menschen sich recht früh zurechtzufinden weiß, sogleich darin zu Hause ist und wie vorbereitet in dasselbe eintritt: Es kündet Gemeinheit an. Hingegen deutet in solcher Beziehung ein befremdetes, stutziges, ungeschicktes und verkehrtes Benehmen auf eine Natur edlerer Art.

Arthur Schopenhauer

Es ist kein Anzeichen von seelischer Gesundheit, sich an eine zutiefst gestörte Gesellschaft anzupassen.

Jiddu Krishnamaturi

Und warum tun wir das Ganze ständig ohne Unterlass?

Mehr Mut zum Träumen
Verkehrte Welt oder warum wir wieder mehr Träumen sollten. (Foto: © Ulrich B Wagner & Alistair Duncan / alistairduncan.de)

Träumen Sie auch manch einmal davon, die Welt auf den Kopfstellen zu können?

Es gibt mit Gewissheit Momente im Leben eines jeden Einzelnen, aber auch in dem von ganzen Gesellschaften, in denen nur diese radikale Veränderung des Wahrnehmens Klarheit, aber auch einen Ausweg aus dem vermeintlichen Labyrinth zu verheißen scheint.

Doch davon später mehr …

Manchmal ist es ein Buch, ein Bild oder eine Begegnung, die dies auszulösen im Stande ist. Kleine oder große Entführer in das Land der Träume, wenn man bereit ist es zuzulassen. Wenn … Ja, wenn … !?!

Was tun wir eigentlich? Und warum? Und warum das Ganze auch noch ständig und ohne Unterlass?

Und schau da, schon den Bus verpasst

Irgendwie, wenn man manchmal morgens aufwacht, gerädert, und vor dem Aufstehen schon nichts anderes mehr im Sinn hat, als es Isaac Newton gleich zu tun und sich unter den Birnbaum zu setzen, statt der Flöte der Rattenfänger zu gehorchen und im stehenden Sturmlauf stuporös ins Büro zu stürzen, sollte man es tun …

Durch Zufall ist mir vor Tagen Stefan Zweigs Autobiografie „Die Welt von Gestern“ in die Hände gefallen. Oder besser gesagt: als ich morgens eigentlich etwas anderes gesucht habe, direkt vor die noch bettschweren Füße gefallen. Da lag es nun, verkehrt herum auf den Boden, und starrte mich an. Schnell gebückt, hochgehoben, einen ersten flüchtigen Blick riskiert … und … :

Denn es war kein Jahrhundert der Leidenschaft, in dem ich geboren und erzogen wurde. Es war eine geordnete Welt mit klaren Schichtungen und gelassenen Übergängen, eine Welt ohne Hast. Der Rhythmus der neuen Geschwindigkeiten hatte sich noch nicht von den Maschinen, von dem Auto, dem Telephon, dem Radio, dem Flugzeug auf den Menschen übertragen, Zeit und Alter hatten ein anderes Maß. Man lebte gemächlicher, und wenn ich versuche, mir bildhaft die Figuren der Erwachsenen zu erwecken, die um meine Kindheit standen, so fällt mir auf, wie viele unter ihnen frühzeitig korpulent waren …“.

Und schau da, schon den Bus verpasst. Tja, erstens kommt es anders und zweitens … ! Hätten wir nur in manchen Stunden, statt anderes zu tun, mal lieber weiter Wilhelm Busch oder Stefan Zweig gelesen.

Wann haben Sie das letzte Mal so richtig geträumt?

Träumen. Einfach nur Träumen. Wenn es nur so einfach wäre in diesen vermeintlich hektischen Zeiten. Wie fremdgesteuert hetzen wir durch das Leben. Irgendwas geht immer noch aufzudrehen, in uns, um uns herum, und an Anderen ist es sowieso noch einfacher als an sich selbst. Geschwindigkeit, Echtzeitkommuniukation, eine Welt, die nicht schläft. Vom Träumen ganz zu schweigen.

Wann haben Sie das letzte Mal so richtig geträumt, nur nachts, von Tagträumereien an dieser Stelle einmal ganz abgesehen?

Die obige durch Zufall geöffnete Passage in Stefan Zweigs Autobiografie hatte mich an diesem Morgen entführt und eine Reihe von Bildern, Assoziationen hatten mich in eine Welt des luizidalen Traums entführt. Zweig spürte am ganzen Körper die Zeichen der Zeit, neben den Schrecken des Nationalsozialismus, diese alle Poren des Geistes und der Seele zu verstopfen drohende Hektik und Betriebsamkeit, des aufkommenden Maschinen und Informationszeitalters. Die Zeit, ihr Würgegriff, ihr Diktat und das Gefühl der Fremdbestimmtheit durch sie, ist so alt wie die Menschheit. Und doch umweht, und beileibe ich bin mit Gewissheit nicht der Einzige dem es so geht, einen die Angst, dass es bald soweit sein könnte, dass uns die Luft ausgeht, dass wir durch und durch eine erschöpfte Gesellschaft sind, die nur vor lauter Bäumen … immer unbeirrter, ohne Plan und Verstand vor uns herrennen.

Als das Träumen noch geholfen hatte

Als ich also so, mit dem Buch in der Hand, aus meiner Träumerei erwachte, merkte ich, wie vor meinem inneren Auge ein Film ablief. Ein Film aus jener fast verblichenen Zeit, als das Träumen noch geholfen hatte: Destino.

Das Schicksal, ein animierter Kurzfilm, der 1945 als Zusammenarbeit von Walt Disney und Salvador Dalí begonnen hatte, bereits im folgenden Jahr aufgegeben und dessen Arbeit daran erst über fünfzig Jahre unter der Regie von Dominique Monféry wieder aufgenommen wurde und schließlich im Jahr 2000 als DVD und Bluray erschien. Destino, eigentlich nur ein Song des mexikanischen Komponisten Armando Dominguez für die Sängerin Dora Luz, der auch in Disneys Three Caballeros vorkam und den der große Dalí im Grunde auch gar nicht mochte, dafür aber den schicksalhaften Titel. Dali erblickte in ihm, wie erzählt wird, eine magische Exposition existentieller Probleme im Labyrinth der Zeit.

Auch wenn es Disney im Grunde eher um die einfache Geschichte eines jungen Mädchens auf der Suche nach der wahren Liebe ging, Walt Disney ließ Dalí freie Hand und ihn einfach machen. Der ließ sich in der Folge auch jeden Morgen im Studio blicken, um an Destino zu arbeiten. Daraufhin entstanden so schließlich fünf Gemälde und 375 Zeichnungen. Bald jedoch beendete das klamme Studio dieses extravagante Projekt. Der Maler nahm es sportlich und blieb mit Disney befreundet. Die Zeichnungen verschwanden im Archiv und wurden erst Ende des letzten Jahrhunderts ausgegraben, als Walts Erbe Roy Disney die Idee hatte, das Begonnene fertigzustellen.

Träumen. Einfach nur Träumen
Träume verändern die Welt. (Foto: © Ulrich B Wagner & Alistair Duncan / alistairduncan.de)

Die Computeranimationen gleichen zwar eher einer Vergewaltigung der ehemaligen Idee, aber dennoch sind sie in der Lage uns zu entführen. Überzeugen Sie sich selbst, und Sie werden vielleicht selbst für sich nachempfinden können, was der Filmhistoriker Helmut Färber erlebte, der diesen Farbenfilm den ersten geradewegs paradiesischen Film der Filmgeschichte nannte: Nie mehr werden auf der Leinwand eines Kinos Farben zu sehen sein, wie sie in ,Fantasia‘ zu sehen sind, zu fühlen, zu spüren, einzuatmen, so dass sie den ganzen Körper als eine Wärme durchdringen. (siehe Athen, Michael: Disney und Dalí. Als das Träumen noch geholfen hat, abzurufen auf faz.net).

Träume verändern die Welt

Träumen, Innehalten, sich Gehenlassen. Träume verändern die Welt. Nur über das Träumen können wir die große Unruhe vielleicht schöpferisch verwandeln. Träumen ist die Voraussetzung für das Umdenken und für die Umgestaltung der Welt. Alle großen oder kleineren Innovationen, Entdeckungen, Revolutionen und Kunstwerke sind auf diese Weise entstanden und Möglichkeit geworden. Denken Sie doch nur noch einmal an Newton unter dem Birnbaum, als ihm, im Traum vertieft, die Birne auf den Kopf fiel und er die Gravitationsgesetze entdeckte. Manchmal, glauben Sie mir, muss es noch nicht einmal ein Birnbaum sein. Es reicht schon ein Buch, das einem vor die Füße fällt. Oder ein Blick durch ein Wasserglas. Oder ähnliches.

Eines steht mit Gewissheit fest: Glück, Kunst und Veränderung werden nur dann Realität, wenn man bereit ist, die vermeintlich rationale Tagesordnung aufzugeben und die Welt stattdessen einmal verkehrt herum zu betrachten, sie, traumanalog, sprichwörtlich mit anderen Augen zusehen.

Ein zweiten Vorteil hat das auf den Kopf stellen am Ende des Tages außerdem: Viele bis dato unentsorgte Dinge fallen wie von Zauberhand endlich aus den überfüllten Hosentaschen, und das Rennen der Füße in der Luft hat auch noch die eine oder andere befreiende Wirkung … 🙂

In diesem Sinne, wünsche ich uns Allen mehr Mut zum Träumen.

Ihr Ulrich B Wagner

Über Ulrich B Wagner

Ulrich B Wagner, irrsinn, das positive denken
(Foto: © Ulrich B Wagner)

Ulrich B Wagner (Jahrgang 1967) ist Diplom-Soziologe, Psychologe, Schriftsteller und Kolumnist. Sein Studium der Soziologie, Psychologie & Rechtswissenschaften absolvierte er an der Johann Wolfgang von Goethe Universität, Frankfurt am Main. Zusammen mit Professor Karl-Otto Hondrich arbeitete er am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an einer Reihe von Forschungsprojekten zum Thema „Sozialer und kultureller Wandel“.

Ulrich B Wagner ist Dozent an der european school of design in Frankfurt am Main mit dem Schwerpunkt  Kommunikationstheorie, Werbe- und Konsumentenpsychologie, sowie Soziologie und kultureller Wandel und arbeitet als Berater sowie systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikation und Konzeptentwicklung, Begleitung von
Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

Zu erreichen: via Mail ulrich@ulrichbwagner.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).

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