Wieder fühlen lernen: Latexfreie Zonen und die Menschlichkeit

Trauen wir uns überhaupt noch, zu fühlen? Oder betäuben wir jedes Gefühl mit Rationalismus, schützen uns vor dem Fühlen mit allerhand Ausrüstung? Wir lassen die Menschlichkeit nicht an unser Herz heran, sondern schieben es schnell von uns, wenn wir etwas fühlen – aus Angst?

Ulrich B Wagner will uns mit seinem heutigen Beitrag zur Kolumne „QUERGEDACHT & QUERGEWORTET – Das Wort zum Freitag“ Mut machen, wieder zu fühlen – echt und aufrichtig.

 

Wir laufen rum mit der Schnauze voll, die Köpfe sind leer
Sitzen im Dreck bis zum Hals, haben Löcher im Herz
Ertränken Sorgen und Probleme in ’nem Becher voll Wein
Mit einem Lächeln aus Stein, uns fällt nichts Besseres ein
Wir ham‘ morgen schon vergessen, wer wir gestern noch war’n
Ham‘ uns alle vollgefressen und vergessen zu zahl’n
Lassen alles steh’n und liegen für mehr Asche und Staub
Wir woll’n alle, dass es passt, doch wir passen nich‘ auf
Die Stimme der Vernunft is‘ längst verstummt, wir hör’n sie nich‘ mehr
Denn manchmal ham‘ wir das Gefühl, wir gehör’n hier nich‘ her
Es gibt kein vor und kein zurück mehr, nur noch unten und oben
Einer von hundert Millionen, ein kleiner Punkt über’m Boden
Ich heb‘ ab!

Sido, Astronaut

Ich habe mich auf den Schreibtisch gestellt um mir klarzumachen,dass wir alles auch aus anderer Perspektive sehen müssen. Von hier oben sieht die Welt wirklich anders aus.

Der Captain in der Club der toten Dichter

Der Captain ist tot

Oh Captain, mein Captain, es ist etwas mehr als ein Jahr her, als Millionen Robin Williams-Fans ihrem Helden, mittels Twitter, Facebook & Co. die letze Ehre erwiesen, indem sie eingedenk dieses großen Menschenfreunds und Ausnahmekünstler mit diesen Zeilen zwischen den Lippen, auf die Tische stiegen. Walt Whitman hatte diese im November 1865 zum Gedenken an den gerade erst verstorbenen amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln im Rahmen eines zeitlosen, dreistrophigen Gedichts veröffentlicht. Zum Welthit wurden sie dann in dem wohl größten Film mit Robin Williams: Der Club der toten Dichter.

Es lebe der Captain!

Niemand weiß es, Alle sind ratlos. Anfang der Woche machte ich meinem Frust an dieser Stelle im Rahmen meiner Kolumne „Der Club der toten Zyniker“ Luft. Abends setzte ich mich wirklich hin und sah mir nach über zehn Jahren einmal wieder den Filmklassiker an, auf den ich mich berief. Ich denke es würde uns allen gar nicht so schlecht zu Gesichte stehen, uns die eine oder andere Zeile aus dem Film auf die Stirn oder besser noch in unsere Herzen zu schreiben.

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Runter mit den Schutzhandschuhen! (Bild: © Jörg Simon)

Den Schutzanzug abstreifen und wieder fühlen lernen

Wir können noch, wenn wir es wirklich wollen. Alles ist möglich, wenn man es nur wirklich zu fühlen wagt.

Wir sollten endlich die Latexanzüge und Latexhanschuhe abstreifen, wieder zu fühlen lernen, uns auch mal wieder berühren lassen, von anderen, ihrem Leben, ihrem Leid, aber auch ihrem Mut, ihrer Lebensfreude und auch ihrem Stolz, hier zu sein und zu leben.

Was bedeutet uns noch das Leben? Nicht nur das Eigene oder das Leben an sich, das andere, das andere Leben? Wir sollten wieder erkennen, das wir nunmal soziale Wesen sind – Wesen, die fühlen. Denn wir sind nichts ohne den/die andere/n. Sie sind uns nicht nur Spiegel, sondern auch Möglichkeit, Versprechen und Freiheit.

Offen für Gefühle

Der oder die signifikante andere. Es kann soviel. Es können so viele sein, wenn wir uns nur zu sehen trauen.

Bruder Eichmann, der Untertan, der Profimitläufer und Opportunist, urdeutsche, urspießige Charaktere, die das ewige Leben der Ratten teilen. Ich bin gottlob kein Anhänger von Rattenfängern, der eine oder andere Kammerjäger würde uns, unserer Gesellschaft und den meisten Unternehmen doch wahrlich gut zu Gesichte stehen.

Mitgefühl – echtes Fühlen?

Selbst in der Flüchtlingskrise zeigen wir uns zwar offiziell barmherzig und gutmütig, doch unter dem Deckmantel der Nächstenliebe, der Freiheit und Offenheit verbirgt sich reines Kalkül und Machtinteresse. Wahrlich, es gibt schlimmere Ausgeburten des Mitläufertums, doch diese Verlogenheit ekelt mich an. Wasch Dich, doch mach dich nicht nass. Verändere Dich, doch sorge dafür, dass am Ende alles so bleibt wie es ist. Das hat früher schon geklappt, also jetzt erst Recht… wir rennen sehenden Auges in den Untergang und wenn wir nicht aufpassen, mag, auch wenn ich ihn nicht mag, der gute alte Till Schweiger Recht behalten, als er im Rahmen des Besuchs eines Flüchtlingsheims davon sprach, dass vielleicht schon bald auch wieder Deutsche auf der Flucht sind.

Two roads diverged in a wood, and I –
I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.
(Robert Frost)

Kunst und Liebe können und dürfen alles. Es war Robert Frost, der uns in seinem Gedicht Road Not Taken die Chancen und Folgen unserer ganz individuellen Entscheidungen vor Augen hält. Auch das kann uns das Wiedersehen mit diesem Film schenken: Ein Gefühl, unabhängig von den anderen den eignen Rhythmus zu entdecken, sich nicht nur zu trauen, sondern auch zu fühlen und Vorhaben in die Tat umzusetzen, den eigenen Weg zu finden.

Vorwärts, immer vorwärts

Wir werden die Antwort auf die Fragen unserer Zeit niemals auf den bereits ausgetretenen Trampelpfaden des Geistes finden. Kein anderer kann für uns gehen. Gehen ist eine Bewegung, vorwärtsgehen, mäandrieren, den Blick offen, die Haut erzittert angesichts des Lebens und des Windes den unsere Bewegung erzeugt. Denken heißt Gehen, Vorwärtsgehen. Verharren, Stillstand bedeutet Lähmung und schließlich den Tod.

Wir müssen es versuchen. Das ganze Leben ist ein Versuch, den Irrtum, das Scheitern und Wiederaufstehen und erneut versuchen mit eingeschlossen. Lernen, in der Idee zu leben, die Idee zu fühlen, denn alles begann einmal mit einer Idee. Unser Leben begann mit ihr: der Menschlichkeit. Wenn die Idee stirbt, werden wir sterben.

Ich glaube daran, wir müssen es nur wollen.

Mit neuen Fragen, neue Antworten zu finden.

Wenn das Pferd tot ist, sollte man absteigen. Die alten Fragen und alten Antworten können gerne in den Satteltaschen vermodern.

In diesem Sinne, wünsche ich uns allen mehr Mut, in der Idee zu leben.

Ihr

Ulrich B Wagner

 

Über Ulrich B Wagner

Ulrich Wagner
QUERGEDACHT & QUERGEWORTET – Das Wort zum Freitag (Foto: © Ulrich B. Wagner)

Ulrich B Wagner (Jahrgang 1967) ist Diplom-Soziologe, Psychologe, Schriftsteller und Kolumnist. Sein Studium der Soziologie, Psychologie & Rechtswissenschaften absolvierte er an der Johann Wolfgang von Goethe Universität, Frankfurt am Main. Zusammen mit Professor Karl-Otto Hondrich arbeitete er am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an einer Reihe von Forschungsprojekten zum Thema  „Sozialer und kultureller Wandel“.

Ulrich B Wagner ist Dozent an der european school of design in Frankfurt am Main mit dem Schwerpunkt  Kommunikationstheorie, Werbe- und Konsumentenpsychologie, sowie Soziologie und kultureller Wandel und arbeitet als Berater sowie systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikation und Konzeptentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

Zu erreichen: via Mail ulrich@ulrichbwagner.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).

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