Zeitverständnis & Kultur: Pünktlichkeit ist eine Tugend – oder doch nicht?

Das Zeitverständnis unterscheidet sich von Land zu Land gravierend. So legen die Deutschen bekanntlich sehr großen Wert auf Pünktlichkeit, aber schon im Nachbarstaat Österreich ist man im Umgang mit der Zeit wesentlich entspannter. Wenn es dann noch weiter Richtung Süden geht, trifft man auf ein völlig anderes Zeitverständnis. Da gilt es, sich anzupassen. Darüber schreibt die zertifizierte Wirtschaftsmediatorin und Speakerin zu internationalen Führungsthemen Barbara Wietasch in ihrem heutigen Beitrag zur zweiwöchentlich erscheinenden Themenserie “Global Management: Ein Tanz mit den Eisbergen“.

Jede Kultur hat ihre eigenen, einmaligen zeitlichen Fingerabdrücke. Ein Volk kennen heißt die Zeitwerte kennen, mit denen es lebt.

(Jeremy Rifkin)

Das deutsche Zeitverständnis mahnt zur Pünktlichkeit

Schon früh lernen wir in Deutschland das Kinderlied: „Wer hat an der Uhr gedreht, ist es wirklich schon so spät …stimmt es dass es sein muss: ist für heute wirklich Schluss?“ Und unbewusst mahnt es uns an den verantwortungsvollen Umgang mit der Zeit, an die Einhaltung von Terminen, und dass das Leben nicht nur aus Freude und Spaß besteht.

Jede Kultur hat ihr eigenes Zeitverständnis

Kulturforscher wie Hofstedde, Trompenaars, Halls haben in ihren unterschiedlichen Ausführungen zum Zeitverständnis die Weltregionen analysiert.  Interessant sind dazu die Ergebnisse von Trompenaars zum Zeitverständnis. Hier geht es zum einen um die Bedeutung, die man Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beimisst. Wer zukunftsorientiert ist, schmiedet Pläne und richtet die Aufmerksamkeit auf künftige Möglichkeiten. Wer in der Gegenwart lebt, konzentriert sich auf das Heute und misst Zukunftsplänen weniger Bedeutung bei. Wer die Vergangenheit mit im Blick hat, legt mehr Wert auf Traditionen und geschichtliche Kontinuität.

Zum anderen differenziert Trompenaars zwischen einem „sequenziellen“ und einem „synchronen“ Zeitverständnis. Im sequenziellen Zeitverständnis wird die Zeit getaktet. Sie ist ein kostbares Gut, das man nicht verschwendet. Termine werden möglichst eingehalten, und man erledigt eins nach dem anderen. Menschen mit synchronem Zeitverständnis füllen ihre Zeit flexibler, erledigen mehrere Dinge gleichzeitig und messen festen Zeitvorgaben weniger Bedeutung bei. Beziehungen sind wichtiger als Termine.

Vermutlich werden viele deutsche Leser sich eher im sequenziellen Zeitverständnis wiedererkennen, während zahlreiche andere Kulturen in Lateinamerika, Asien oder dem arabischen Raum Zeit eher synchron auffassen. Reibungspunkte sind damit vorprogrammiert.

Pünktlichkeit gilt eben nicht überall als „Höflichkeit der Könige“

Im Vergleich dazu erstellt der Anthropologe Edward T. Hall eine Differenzierung von monochromen oder polychromen Kulturen.

In monochromen Kulturen wird eines nach dem anderen abgearbeitet, es wird immer versucht, Termine einzuhalten, der Gedanke „Zeit ist Geld“ schwingt fast immer mit. Hier werden Arbeitsabläufe organisiert, die „Schritt für Schritt“, d.h. prozessmäßig organisiert ausgeführt werden.

In polychromen Kulturen werden Aufgaben parallel und gleichzeitig durchgeführt. Das macht es westlichen Unternehmern oft schwer, die Abläufe in Asien zu verstehen. Schwierigkeiten entstehen auch, wenn es darum geht, Prozesse, die im Headquarter funktionieren, „auszurollen“.

In der westlichen Arbeitswelt ändert sich durch die Matrixorganisation das Vorgehen in den Unternehmen: es wird sowohl synchron als auch sequenziell vorgegangen, was in vielen Organisationen und für viele Mitarbeiter anfangs zu Verwirrungen führt.

Tanz mit den Eisbergen – im Umgang mit der Zeit

In interkulturellen gemischten Seminaren stelle ich gerne die Aufgabe, eine Bedienungsanleitung für die eigene Kultur zu erstellen. Bei jeder deutschen Selbstbeschreibung steht Pünktlichkeit an erster Stelle, danach kommt Disziplin und Zuverlässigkeit.

Nach den Kulturdimensionen von Geert Hofstede ist es für uns Deutsche eine große Herausforderung mit „Unsicherheiten“ umzugehen. Es fällt uns schwer, zu improvisieren und Dinge auf uns zukommen zu lassen. Wenn andere zu spät kommen, Berichte zu spät abliefern, wird das von uns häufig als respektlos empfunden. Und das passiert uns schon mit unseren direkten Nachbarn.

Wie sieht das in der Praxis aus? Zündstoff für Konflikte

Nach meiner Rückkehr aus Spanien musste ich erst mühsam wieder lernen, deutsche Pünktlichkeit einzuhalten. In einem Seminar hatten wir die Zeiten gemeinsam festgelegt, die Mittagspause endete um 13.00 Uhr und als alle bereits fünf Minuten vorher anwesend waren, machte ich nach einem kurzen Check mit unseren Themen weiter. Für mich war das stimmig, jedoch war dies weit gefehlt. Fehlendes Zeitmanagement, weil ich zu früh angefangen hatte, war das Feedback eines Teilnehmers.

Ost trifft West beim Zeitverständnis

In Österreich erlebe ich das schon viel entspannter, wir sprechen hier gerne von dem „akademischen Viertel“, und das wird auch von allen akzeptiert. Kommt jemand doch etwas später, entschuldigt er sich und ein kurzer Beziehungsaufbau, Begrüßung und Small Talk mit allen Wartenden ist normal. Trotzdem war es für mich anfangs überraschend, wenn ich bei einer Terminbestätigung dann nicht ein klares „JA“ oder „NEIN“ erhielt, sondern ein „EHER JA“.

In Spanien habe ich bei persönlichen Verabredungen oftmals gehört „Wenn ich komme, dann komme ich, und wenn nicht…“. In dieser Zeit hatte ich fast immer ein dickes Buch zum Lesen dabei, und einen Plan B wenn ich mich mit jemanden verabredet habe…und in China wundert man sich, wenn ich mir bei der Terminvereinbarung einen „Puffer“ einbaue, und dies auch noch erkläre.

Es gibt, wie überall, kein Richtig und kein Falsch. „If you are in Rome, do as the Romans do!“ gilt selbstverständlich auch im Umgang mit der Zeit. Wenn wir auf unserem Zeitverständnis beharren, wird dies mit unseren Gesprächspartnern unweigerlich zu Missverständnissen führen, und wer will schon gerne von einem „Musterschüler“ belehrt werden?

Barbara Wietasch, Global Management, Führung, Internationalität, Leadership, International Business, IRC
Speakerin zu internationalen Führungsthemen (Foto: © Barbara Wietasch)

Es ist wie beim Eisberg: Das Verhalten ist der sichtbare Teil über dem Wasser. Jedoch unter der Wasseroberfläche finde ich das „Warum“. Nur wenn ich die Tanz-Schritte des anderen kenne, wenn ich seine tieferliegenden Werte respektiere, kann ich es vermeiden, ihm auf die Füße zu treten, bzw. einen Konflikt zu verursachen. Wichtig ist: das andere Verhalten wertungsfrei zu beobachten und das anzunehmen, was das Leben erleichtert.

Über Barbara Wietasch

Barbara Wietasch ist Sprachwissenschaftlerin, Organisationsentwicklerin (MAS), zertifizierte Wirtschaftsmediatorin und Speaker zu internationalen Führungsthemen sowie Lektorin an einer internationalen Business School in Wien. Von ihrer frühesten Jugend an haben andere Länder und andere Sitten sie begeistert, ebenso ihr Wissen an andere weiterzugeben. Profitieren Sie von ihrem großen Wissen als Praktikerin und Expertin und erschließen Sie für sich und Ihr Unternehmen die Schätze aus der internationalen beziehungsweis globalen Zusammenarbeit. Ihre Trainings- und Beratungssprachen sind deutsch, englisch und spanisch.

Mehr über Barbara Wietasch im Internet auf www.internationaldynamics.de.

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