Advent, Advent, die Seele brennt …

… aus der wöchentlichen Business-Kolumne von Ulrich B Wagner mit dem Titel „Me, myself and I – eine Reise in sich hinein und über sich hinaus„.

Heute:    Advent, Advent, die Seele brennt …
Alle Jahre wieder, oder über den Horror des Daueradvent…(!?)

Und darin liegt einer von meinen Lebensirrtümern. Noch vor wenigen Tagen habe ich mir notiert: „Immer, auch in Augenblicken der Fülle, deine Tendenz des: Es ist noch nicht da! Immer erlebst du auch die vollkommene Gegenwart als eine bloße Adventszeit. Immer erwartest du danach mehr, noch Größeres, das Größte. Da! Es ist dagewesen und ist da – und warum die Einmaligkeit in eine Wiederholung, in eine Reihe, in ein Bleiben zwingen …“
(Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht – Ein Märchen aus den neuen Zeiten, Suhrkamp 2007)

Wir alle kennen sie: Die vermaledeiten, großen Erwartungen an das Leben und die Zeit. Das Dahin fiebern, Sehnen, Träumen und Erhoffen, das schließlich und endlich nur in einem Enden kann: Der Enttäuschung.

Thomas Mann hat dieses Gefühl in einer seiner frühen Erzählungen wundervoll dargestellt: Die Enttäuschung (Thomas Mann, sämtliche Erzählungen, Bd.1, S.Fischer Verlag, 9.Auflage 2005). An kurzen Herbsttagen in Venedig spielend, handelt sie von einem sonderbaren Herren, der dem Ich-Erzähler in kurzen, klaren und eindringlichen Sätzen, seinen misanthropischen Blick und sein Leiden auf und an der Welt schildert: Wissen Sie mein Herr, was das ist: Enttäuschung? fragte er leise und eindringlich… Nicht im Kleinen und Einzelnen ein Misslingen, ein Fehlschlagen, sondern die große, die allgemeine, die Enttäuschung, die alles, das ganze Leben einem bereitet? … Das Leben bestand für mich schlechterdings aus großen Wörtern, denn ich kannte nichts davon als die ungeheuren und wesenlosen Ahnungen, die diese Wörter in mir hervorriefen. Ich erwartete von den Menschen das göttlich Gute und das haarsträubend Teuflische… Ein paar Seiten weiter die für mich immer wieder von neuem klingenden und zentralen Sätze über den Blick aufs Meer: Ich gedenke oft des Tages, an dem ich das Meer zum ersten Mal erblickte. Das Meer ist groß, das Meer ist weit, mein Blick schweifte vom Strande hinaus und hoffte befreit zu sein: Dort hinten aber war der Horizont. Warum habe ich einen Horizont? Ich habe vom Leben das Unendliche erwartet …

Meist (oder doch in der Regel?) endet das Wünschen und Sehnen, das Vorhersehen und Ausmalen zukünftiger Tage und Erlebnisse genau so. Denn wir sind alle, ob Wissenschaftler oder Laie, äußerst schlechte Seher zukünftiger Ereignisse, geschweige denn zukünftiger Gefühle oder Befindlichkeiten in Zeiten des Eintreffens dieses oder jenes Ereignisses. Auch die berühmte Seherin der Antike Kassandra kam, sich im Kreise drehend, immer wieder nur zu ein und derselben Prophezeiung: Es wird böse enden!

Wir alle kennen diese Enttäuschungsmomente. Oder nicht?

Wie glücklich, wie befreit und großartig das Leben sich beispielsweise von einem Moment zum anderen auftun sollte, angesichts der bestandenen Prüfung, des großen Ereignisses und dem mit ihm so lang ersehnten Zeitpunkt der Erfüllung…

Das Gras ist immer grüner auf der anderen Seite des Zauns, und wir erwarten vom Leben immer mehr, als es uns gut tut.

Wie mit einem Brennglas fokussieren wir unsere Gegenwart, unsere Jetztzeit auf zukünftige, noch tote Momente und Ereignisse, anstatt im Hier und Jetzt uns an dem zu erfreuen, was uns gerade umgibt und erwartet. So wartend und sehnend geschieht es nämlich still und leise um uns herum: Das Leben.

Anstatt die kommende Zeit, sprich den richtigen Moment, zu erwarten, zu ersehenen, und schlicht vor uns her zu warten, sollten wir uns lieber fragen, was die Zeit jetzt, genau in diesem Moment von uns erwartet, welche Räume, welche Möglichkeiten im Jetzt und Hier eröffnet sie uns in diesen Kairos – Momenten des erlebten und erfahrenen Augenblicks.

Die Adventszeit kann beides sein, ein psychodelisches Horrorszenarium in vier Teilen, das schließlich im seelischen Super-Gau, in familiäreren Tragödien und kollektiven Nervenzusammenbrüchen endet, angesichts der sich selbst beschleunigenden adventlichen Erwartungen und Heilsversprechungen, die sich dann auch noch final in der heiligen Nacht auf Teufel komm raus doch bitte erfüllen sollen.

Die Adventszeit kann (oder könnte, wenn wir es zuließen…) jedoch auch mehr sein: Eine Zeit der Besinnung, ohne Erwartungen, ohne fahle Heilsversprechungen und ohne finale Enttäuschungsmomente. Eine Zeit der Besinnung, der Sinnlichkeit, des Lebens und Erlebens mit allen Sinnen, schlicht und einfach: Ein Leben im Hier und Jetzt.

So könnte uns die Adventszeit auch eine Lehrmeisterin sein für den Rest des Jahres oder vielleicht besser gesagt eine Einstimmung auf das künftige Jahr, auf das Kommende, ganz ohne Erwartungen. Eine Lehrmeisterin für ein Leben mit geschärften Sinnen und der Sinnlichkeit für die wundervollen Reize und Möglichkeiten des Augenblicks.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen von Herzen eine entspannte, sinnliche und besinnliche Adventszeit, mit sich selbst und Ihren Lieben, ganz ohne große Erwartungen.

Ihr Ulrich B Wagner

Zum Autor:

Ulrich B. Wagner, Jahrgang 1967, studierte Psychologie, Soziologie und Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang von Goethe Universität in Frankfurt am Main.

Er ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Kommunikation, Coaching und Managementberatung (ikcm) mit Sitz in Bad Homburg und Frankfurt am Main und gleichzeitig Dozent an der european school of design für Kommunikationstheorie sowie Werbe- und Konsumentenpsychologie.

Ulrich Wagner arbeitet als Managementberater und systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikations- und Rhetoriktrainings, Personalentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

Zu erreichen: via Website www.ikcm.de, via Mail uwagner@ikcm.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).

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