Bei sich sein!

Die wöchentliche Business-Kolumne von Ulrich B Wagner mit dem Titel „Me, myself and I – eine Reise in sich hinein und über sich hinaus„.

          Heute: Bei sich sein! Die Freiheit, die ich meine …

“Nach meiner Meinung sind die politischen Großkörper, die wir Gesellschaften nennen, in erster Linie als stress-integrierte Kraftfelder zu begreifen, genauer als selbst-stressierende, permanent nach vorne stürzende Sorgen-Systeme… Aus dieser Sicht ist eine Nation ein Kollektiv, dem es gelingt, gemeinsam Unruhe zu bewahren. In ihm muss ein stetiger, mehr oder weniger intensiver Stressthemenfluss für die Synchronisierung der Bewußtseine sorgen, um die jeweilige Bevölkerung in einer sich von Tag zu Tag regenerierenden Sorgen- und Erregungsgemeinschaft zu integrieren“

(Peter Sloterdijk, Stress und Freiheit, Suhrkamp 2011)

Wir werden getrieben, tagein und tagaus vorangetrieben von den Cassandras dieser Welt. Eine Schreckens- und Hiobsbotschaft löst die andere ab, unvermindert, in nicht endender, sondern sich ständig überschlagender Geschwindigkeit.

Cassandras Jahrtausende alter Ausruf, “Es wird schrecklich enden!“, ist zum Dauerrauschen, zum Grundton des kollektiven Tinnitus geworden.
Trunken nach Untergang, Zerstörung, Empörungs-, Beneidens- und Überhebungsvorschlägen oder sonstigen Angeboten, die sich an die Sentimentalität, die Angstbereitschaft und die Indiskretion unserer überforderten und ra(s)tlosen Psyche wenden, stürzen wir von Hiobsbotschaft zu Hiobsbotschaft, vergessen darüber das Leben und verlieren uns schließlich im Defätismus.

Warum sich dann noch mit sich selbst beschäftigen, sich pflegen und das Glück in die Welt hinaustragen, wenn Alles sinnlos und vom Atem des Thanatos umweht ist?

Wir lieben den Untergang, denn die kollektiven Irritationsthemen verklammern unsere schmerzhaft auseinanderdriftenden Wünsche, Sehnsüchte und Wertvorstellungen. Sie verbrüdern uns, schenken uns Gemeinschaft und Verbundenheit in einer sich immer mehr individualisierenden Gesellschaft. In schlechten Zeiten hält man halt zusammen und hat einfach Wichtigeres zu tun, als sich mit sich selbst zu beschäftigen.

Unablässig kehren wir vor fremden Türen, beschweren und verlieren uns im Leid und Unvermögen der Anderen, lenken ab, berauschen uns im Besserwissen und recken unsere Zeigefinger, um uns, trunken und maßlos ermüdet, nicht mit uns und unserem Leben beschäftigen zu müssen. Es sind die Anderen, das Leben “da draußen“, die Umstände, all das Treiben, das uns nicht zur Ruhe und Besinnung kommen lässt. Kollektive Paranoiker und Hysteriker, die wir nun mal sind, haben wir den Bock zum Gärtner gemacht und fressen die Blüten, die das Leben für uns bereit hält.

Es war Jean-Jaques Rousseau, dem Peter Sloterdijk den Ehrenplatz in der Geschichte der Psychologie, als Kronzeuge der Erkenntnis, zuwies, dass es Paranoiker gibt, die wirklich verfolgt werden.

Am 12. September des Jahres 1765 floh der Autor des Emile mit seiner Lebensgefährtin Marie-Thérése Le Vasseur auf eine fast menschenleere Insel inmitten des Bieler Sees. Müde und des Streitens überdrüssig.

In den folgenden sechs Wochen sollte sich Rousseaus Welt- und Selbstsicht grundlegend verändern (vgl. Die Träumereien eines einsamen Spaziergängers, 1776). An manchen heißen Herbsttagen war der verfolgte Philosoph und Schriftsteller, langsam ein wenig zur Ruhe gekommen und vom Reiz des stillen Ortes verzaubert, auf den See hinausgefahren. Irgendwo draußen auf dem See ließ er die Ruder sinken und legte sich rücklings auf den Boden des Bootes, um sich seiner neu gewonnenen Lieblingsbeschäftigung hinzugeben: Einem inneren Driften, das Rousseau mit dem Wort rêverie (Träumerei) umschrieb.

Rousseau sagt selbst, er habe sich mitunter sprichwörtlich stundenlang treiben lassen, sei dabei in reine Träumerei versunken, die keinen besonderen Gegenstand zum Anlass hatte, und doch hundertmal süßer waren als Alles, was man gemeinhin die Freuden des Lebens nennt.
Es sind die unvergleichlichen Kairos-Momente des Lebens, die Rousseau in seinen Träumereien beschreibt.

Rousseau behauptet nicht, er sei Gott nahe gewesen, oder erzählt von sonstigem spirituellen Schabernack. Das erste Wort des Subjekts ist einzig eine reine Selbstanzeige. In dieser gibt er an, dass er in einer Form der Ekstase des Bei-sich-Seins sich selbst entdeckt hat, und dass er darüber hinaus nichts zu sagen hat.

Indem er das Gefühl der puren Existenz erfährt, erwirbt Rousseau nicht nur einen souveränen Seinstitel, sondern er wächst sprichwörtlich über sich selbst hinaus.

Oder wie Goethe es in seinem Werther umschrieb: Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt.

In diesem Sinne wünsche ich uns mehr Zeit mit uns selbst, jenseits vom Dauerlärmen des Selbstmitleids und der moralischen Fingerzeigerei, um so, über uns selbst hinauswachsend, für die anstehenden Aufgaben des Lebens gewappnet zu sein.

Ihr  Ulrich B Wagner

Zum Autor:

Ulrich B. Wagner, Jahrgang 1967, studierte Psychologie, Soziologie und Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang von Goethe Universität in Frankfurt am Main.

Er ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Kommunikation, Coaching und Managementberatung (ikcm) mit Sitz in Bad Homburg und Frankfurt am Main und gleichzeitig Dozent an der european school of design für Kommunikationstheorie sowie Werbe- und Konsumentenpsychologie.

Ulrich Wagner arbeitet als Managementberater und systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikations- und Rhetoriktrainings, Personalentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

Zu erreichen: via Website www.ikcm.de, via Mail uwagner@ikcm.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).

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