Branchenlösung für IT-Unternehmen – Masskonfektion oder Individuallösung

Wenn IT Unternehmen eine Branchenlösung für sich selbst einführen, hängen die Entscheidung und das Ergebnis natürlich von der Qualität und vom Zeitaufwand des Projektteams, von den Besonderheiten des Geschäftsmodells und vom zur Verfügung stehenden Budget ab. Viel mehr aber noch davon, mit welcher Motivation das Unternehmen an die Suche nach einer neue Lösung herangeht.

Grundsätzlich sehen wir zwei Grundmotivationen für eine Entscheidung: die aktive Vorwegnahme von in der Zukunft sinnvollen Prozessverbesserungen, die zu einem Zeitpunkt getroffen werden, an dem für alle Erwägungen genug Beweglichkeit vorhanden ist. Dagegen steht die – oft überfällige – Reaktion auf neue Entwicklungen, um einer Bedrohung zu begegnen. Die sich daraus ergebenden Handlungen sind geprägt durch äußere Zwänge.

"Wir wollen von Anfang an durchgängige und bewährte Prozesse einführen, um unser Wachstum zu unterstützen" ist ein typischer Satz, den wir von jungen IT-Unternehmen hören, wenn sie sich ohne äußeren Druck oder konkrete Notsituation für unsere Branchenlösung entscheiden wollen. Sie kennen noch keine wirkliche Arbeitsteilung in den Prozessen, Mitarbeiter sind oft noch Allrounder und wollen möglichst toolgestützt und automatisiert arbeiten können. Gegenüber ihren Kunden wollen sie professionell wirken, auch wenn sie noch neu im Geschäft sind. Die Bereitschaft, Prozessstandards zu übernehmen, ist hoch, die Einführung eines Systems wird über Schulungen und Coaching abgewickelt. Für Sonderlocken ist weder die Zeit da noch das Geld.

Dagegen steckt ein großer Teil reaktives Verhalten dahinter, wenn wir Sätze hören wie: "Wir haben einen neuen Großkunden gewonnen; seine Anforderungen sind für uns neue Prozesse, die wir nicht individuell entwickeln wollen. Deshalb brauchen wir schnell eine Standardlösung." Dies ist nur ein Beispiel für mittlere und große IT-Häuser, die ihr Geschäftsmodell erweitern oder so verändern, dass es mit den vorhandenen Bordmitteln nicht rentabel abzuwickeln ist. Solche Unternehmen beginnen, nach einer Lösung für ein drängendes Problem zu suchen und kommen oft zur Einsicht, dass eine weitere Insellösung zwar ein Loch stopft, der Integrationsaufwand aber neue Löcher reißen würde. Eine Gesamtlösung wird so im Schlepptau einer notwendigen Prozessneuerung eingeführt – und wenn man schon nachdenkt, kann man auch gleich die etablierten Prozesse überprüfen. Alte Zöpfe werden in der Folge abgeschnitten, weil man die neue Software als Motivation nutzt, mit der man so viel mehr machen kann als vorher. Für diesen Teil des Projekts werden solche Entscheider zu Gestaltern ihrer zukünftigen Prozesse und arbeiten aktiv daran, ihre Zukunft zu sichern.

Als dritte Gruppe begegnen uns in der Regel größere und etablierte Unternehmen, die von einem in die Jahre gekommenen Standardsystem ohne Branchenausprägung, aber mit vielen individuellen Anpassungen, umsteigen wollen oder deren Prozesse verschlankt werden können, weil sich die Welt um sie herum verändert hat.

Wir hören Sätze wie "Wir haben den Punkt erreicht, an dem uns nichts mehr an unseren bisherigen Softwarelieferanten bindet. Wir müssten wieder eine Menge investieren, um das System an unsere aktuellen Bedürfnisse anzupassen und Altlasten über Bord zu werfen" oder "Der Softwarehersteller hat die Wartungsgebühren so dramatisch verändert, dass wir uns ausgerechnet haben, dass eine Umstellung auf fünf Jahre gesehen billiger für uns wäre." Die Wahl für ein neues, modernes integriertes System steht hier außer Frage, der Schritt zu einer Branchenlösung war bisher aber kein wirklicher Wettbewerbsvorteil. Plötzlich aber ändert sich ein wichtiger Faktor während des laufenden Betriebs und das Thema kommt hoch. Die Mitarbeiter und Prozessverantwortlichen halten zwar am alten, bewährten System fest, die Vordenker im Unternehmen aber sehen strategische oder taktische Notwendigkeiten für eine Umstellung. Um die Organisation möglichst wenig zu stören, werden in solchen Projekten in einer ersten Phase die alten Prozesse im neuen System nachempfunden, weil immer wieder die Aussage von wichtigen Kollegen einschüchtert: "Ja, wenn das nicht mehr geht, können wir nicht umstellen." Eine Veränderung der Prozesse wird auf den Zeitpunkt verschoben, an dem das neue System stabil läuft und sich alle dran gewöhnt haben. Dann erst erntet man den wahren Wert einer Umstellung. Bis dahin hat man nur das Risiko der alten Lösung beseitigt und die Menge der Individualanpassungen deutlich reduziert.

Beim eingangs erwähnten Geschäftsführer steht nach 5 Jahren Nutzung jetzt ein Update auf eine neuere Version an. "Dann gehen wir zurück zum Standard" ist seine feste Absicht. Das Projektteam wird nicht mehr mit Leuten besetzt, die das alte Projekt gemacht haben. "Damit es nicht nochmal eine Kopie des alten Systems wird" sagt er – und weil damit auch neue Möglichkeiten genutzt werden, die die Zukunft des Unternehmens sichern helfen.

 

Zum Autor:

Dr. Josef G. Böck begann seine Laufbahn bei Singhammer nach Studium und Promotion in Augsburg, Swansea (Wales) und Studienaufenthalten in Berkeley (CA) 1987 bei Singhammer Datentechnik GmbH – einem damals mittelständischen Systemhaus in München. Bis 1997 war er dort Geschäftsführer für Dienstleistungen und Finanzen. Seit 1.1.1998 ist er Vorstand bei der Singhammer IT Consulting AG.

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