… aus der wöchentlichen Business-Kolumne von Ulrich B Wagner mit dem Titel „Me, myself and I – eine Reise in sich hinein und über sich hinaus„.
Heute: Der digitale Leviathan…
Wie die digitale Kommunikation unser soziales Miteinander zerstört
Eines Morgens werden wir aufwachen und feststellen, dass wir nicht mehr mit der Hand schreiben können, von unserem Schreibtisch sind Briefumschläge und -papier verschwunden, die Tinte im Füller ist vertrocknet. Wir öffnen den Mund, und kein Laut kommt heraus. Wir haben es verlernt, uns die Hände zu schütteln oder laut zu lachen. Sicher, wir können weiter kommunizieren, alle in demselben uniformierten Stil. Der einzige Unterschied zwischen unseren Botschaften aber wird der Inhalt sein.
Clifford Stoll, amerikanischer Astrophysiker und Computerpionier
In einer Fünftelsekunde kannst du eine Botschaft rund um die Welt senden. Aber es kann Jahre dauern, bis sie von der Außenseite eines Menschenschädels nach innen dringt.
Charles Kettering, Ingenieur, Erfinder und Philosoph
Die digitale Kommunikation frisst ihre Kinder. Der Schädel brummt. Willkommen im Alltag. Über zwei Jahrzehnte waren wir berauscht von den Möglichkeiten der digitalen Kommunikation, sangen Loblieder auf Echtzeitkommunikation, ständige Erreichbarkeit und grenzenlose Kommunikation. Das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information definiert im ICD-10-GM (2011) den Rausch im medizinischen Sinne als „Ein Zustandsbild nach Aufnahme einer psychotropen Substanz mit Störungen von Bewusstseinslage, kognitiven Fähigkeiten, Wahrnehmung, Affekt und Verhalten oder anderer psychophysiologischer Funktionen und Reaktionen…“
Gehe ich hier nicht doch ein wenig zu weit, möchten Sie an dieser Stelle vielleicht gerne anmerken. Ich glaube kaum. Selbstverständlich bringt uns der virtuelle Austausch und digitale Kommunikation enorme Vorteile für den gemeinsamen Aufbau von Wissen, für Meinungsfreiheit, eine globale Vernetzung und ein kollektives Zusammenwachsen über räumliche und gesellschaftliche Grenzen hinweg. Nichtsdestotrotz wird keiner von uns leugnen können, dass wir gerade Zeitzeugen einer fundamentalen und radikalen Veränderung des sozialen Umfelds und Kontextes werden. Wir müssen uns darüber hinaus jedoch auch bewusst werden, dass wir nicht nur unbeteiligte Zeitzeugen sind, sondern Opfer und Täter in einer Person. Jeder von uns. Der eine mehr oder weniger.
Schauen wir uns die Auswirkungen einmal an. Nehmen wir beispielsweise die sogenannten Spiegelneuronen. Dank der Spiegelneuronen können wir uns in andere Menschen einfühlen, und Empathie wird überhaupt erst ermöglicht. Bereits 1995 entdeckten die italienischen Forscher und Neurophysiologen Vittorio Gallese, Giacomo Rizzolatti und Leonardo Fogassi die Spiegelneuronen bei Primaten, wofür sie 2007 mit dem Grawemeyer Award for Psychology ausgezeichnet wurden. In einem Interview warnte Gallese bereits 2008 vor den Folgen, die die kontinuierliche virtuelle Kommunikation auf unser Zusammenleben hat. Ich möchte Ihnen dahingehend kurz aus der Antwort Galleses auf die Frage, welche derzeitigen Entwicklungen ihm bezüglich des sozialen Miteinanders Kopfzerbrechen bereiten, zitieren:
Gallese: Das Vordringen der virtuellen Welt. Wir kommunizieren immer mehr über Telefon und Computer; Gemeinschaften, in denen sich Menschen leibhaftig begegnen, lösen sich zunehmend auf. Nun wissen wir aus unseren Experimenten, dass es für das Einfühlungsvermögen keineswegs gleichgültig ist, ob Sie einen anderen Menschen nur auf einem Monitor sehen oder ihm Auge in Auge gegenüberstehen. Darum ist ein Theatererlebnis oft stärker als ein Kinobesuch. Und wenn Sie sich mit Ihren Gesprächspartnern nur noch per E-Mail oder im Chat austauschen, löst sich Ihr Bild von ihnen vollständig auf.
Klein: Wir entkörperlichen die Menschen, mit denen wir Umgang pflegen.
Gallese: Ja. Und das muss starke Auswirkungen auf unsere sozialen und geistigen Fähigkeiten haben. Wir wissen nur noch nicht, welche. Auf jeden Fall hat sich der soziale Verstand während der Evolution für direkte, nicht für virtuelle Begegnungen ausgeprägt (vgl. ZEITmagazin leben , Nr. 21/2008).
Facebook, E-Mail, Chat und sonstige virtuelle Kommunikation verändert unser soziales Miteinander, auch wenn wir noch nicht zur Gänze wissen in welche Richtung. Letzte Woche forderte die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) eine deutliche Trennung von Arbeit und Freizeit. „Es muss ganz klare Regeln innerhalb eines Betriebes geben was Handykultur und Mailverkehr angeht. Diese Regeln müssen vom Arbeitgeber gesetzt werden, aber auch von den Beschäftigten gelebt werden“, sagte sie am Dienstag in Berlin. So wie es Arbeitsschutzmaßnahmen wie zum Beispiel Schutzhelme gebe, müsse es auch psychischen Arbeitsschutz geben. „In der Freizeit sollte Funkstille herrschen“, so von der Leyen weiter. Heinz Kaltenbach, Geschäftsführer der BKK, stieß ins selbe Horn, als er die Dauererreichbarkeit als Stressfaktor Nr.1 ausmachte und ein Recht auf Nichterreichbarkeit einforderte.
Digitale, computergestützte Kommunikation macht uns also weniger einfühlsam, stresst uns oftmals über alle Maßen hinaus und kann unsere Gesellschaften nachhaltig in eine unsoziale Richtung hin verändern. In dieselbe Richtung geht eine seit Jahren zu bemerkende Entwicklung an den Börsen. An der Wallstreet haben Computer beispielsweise schon seit längerem reale Menschen ersetzt. Hochfrequenzrechner kaufen und verkaufen in einer aseptischen, virtuellen Welt in Millisekunden untereinander Aktienpapiere ohne Blick auf die dahinterliegenden fundamentalen Daten. Norbert Kuls titelte letztes Wochenende in der FAZ dementsprechend in seinem fundierten Artikel zum Thema: „Die Maschinen beginnen zu handeln“ und zitierte Kritiker, die davor warnen, dass es irgendwann schon bald zu einem von Computern ausgelösten, globalen Börsencrash kommen könnte – mit desaströsen Folgen für die Weltwirtschaft und ganzer Gesellschaften.
Hochkomplizierte Computerprogramme scannen unser Leben bestimmen über unser Wohl und Weh und statt einer einfühlenden persönlichen Kommunikation, verstecken sich die Verantwortlichen hinter Monitoren und Algorithmen.
Wir können zwar nicht auf einen Schlag die ganze Welt verändern, wir können jedoch, jeder Einzelne von uns, in unserem Umfeld damit beginnen, die Kommunikation und unser soziales Miteinander wieder ein wenig menschlicher und stressfreier zu gestalten. Nachhaltigkeit, Gesundheit und der soziale Frieden werden es uns danken. Auch ich möchte auf die virtuelle Kommunikation via Computer und Mobiltelefon nicht mehr verzichten. Meines Erachtens geht es jedoch darum, zu lernen, weniger rauschhaft mit den Möglichkeiten der digitalen Kommunikation umzugehen, und ich per bin der Meinung, dass es in unserem eigenen Interesse mehr als an der Zeit ist, den „digitalen Leviathan“ endlich von seinem Thron zu stürzen.
Ihr Ulrich B Wagner
Zum Autor:
Ulrich B. Wagner, Jahrgang 1967, studierte Psychologie, Soziologie und Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang von Goethe Universität in Frankfurt am Main.
Er ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Kommunikation, Coaching und Managementberatung (ikcm) mit Sitz in Bad Homburg und Frankfurt am Main und gleichzeitig Dozent an der european school of design für Kommunikationstheorie sowie Werbe- und Konsumentenpsychologie.
Ulrich Wagner arbeitet als Managementberater und systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikations- und Rhetoriktrainings, Personalentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.
Zu erreichen: via Website www.ikcm.de, via Mail uwagner@ikcm.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).