Amerikanische Gewerkschaften haben seit jeher einen schweren Stand in einer der liberalsten Volkswirtschaften der Welt. In den letzten Jahrzehnten sind die Mitgliederzahlen und der ohnehin niedrige Einfluss der Gewerkschaften aber noch weiter zurückgegangen. Aus dieser Defensive heraus haben aber gerade die amerikanischen Gewerkschaften neue Wege aufgezeigt, wie gewerkschaftliche Arbeit in der Zukunft aussehen könnte. Das „organizing“ und der „social movement unionism“ sind Strategien, die über die Landesgrenzen hinweg relevant geworden sind.
Wettbewerb und freie Märkte sind nicht nur ein zentrales Moment der amerikanischen Kultur und Gesellschaft, sondern auch hochgradig prägend für die Ausgestaltung der industriellen Beziehungen. Die Arbeitgeberseite ist mit starken Rechten ausgestattet, während Gewerkschaftsarbeit kaum institutionell oder politisch unterstützt wird und auch in der öffentlichen Meinung kein hohes Ansehen besitzt. Aber auch die Gewerkschaften selbst sind von liberalen Grundgedanken beeinflusst. Sie verstehen sich als Teil des kapitalistischen Systems und sehen ihre Hauptaufgabe in der kurzfristig orientierten Aushandlung von (besseren) Löhnen und Arbeitsbedingungen anstatt in einer fundamentalen Systemkritik oder in politischer Einflussnahme. Typisch für die amerikanische Gewerkschaftsgeschichte war lange Zeit der sog. „bread and butter unionism“.
Die wichtigste Einheit gewerkschaftlicher Arbeit in den USA sind die Ortsverbände (locals). Sie treiben die Beiträge der Mitglieder ein und führen häufig auch die zentralen Aufgaben einer Gewerkschaft aus: Lohnverhandlungen, Beschwerdeverfahren und Werbekampagnen. Die Ortsverbände können autonom agieren, die meisten schließen sich jedoch den großen nationalen Gewerkschaften an. Ursprünglich gliederten sich diese nach dem Prinzip der Industrie- und Berufsgewerkschaft. Inzwischen organisieren sich aber nahezu alle großen Gewerkschaften berufsgruppen- und branchenübergreifend. So organisieren die United Steelworkers of America inzwischen auch Dienstleistungsberufe. Viele dieser Gewerkschaften sind Mitglied in der American Federation of Labor and Congress of Industrial Organizations (AFL-CIO). Der Dachverband übernimmt vor allem die Koordination und Konfliktlösung zwischen den angeschlossenen Mitgliedsorganisationen sowie zunehmend die politische Interessenvertretung der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung.
Anders als in Deutschland kommt der Abschluss von Flächentarifverträgen nur noch selten vor. Die typischste Form der Tarifeinigung ist der Firmentarifvertrag. Er wird von den Ortsverbänden mit einem Unternehmen ausgehandelt und gilt für die gesamte oder einen meist durch die Tätigkeit definierten Teil der Belegschaft. Damit ein local von einem Unternehmen als Verhandlungspartner akzeptiert wird, ist eine erfolgreiche Anerkennungswahl im Unternehmen notwendig. Im Kontext dieser Wahlen kommt es häufig zu harten Kämpfen um die Stimmen der Arbeitnehmer – sowohl mit der Unternehmensführung als auch mit eventuell konkurrierenden Ortsverbänden, die die Vertretung der Arbeitnehmer für sich beanspruchen. Trotz des Grundsatzes, dass es immer nur einen berechtigten Tarifpartner gibt, bedeutet dies nicht automatisch auch Tarifeinheit, da mehrere locals für verschiedene Berufe in einem Unternehmen aktiv sein können.
Die Rivalität zwischen Gewerkschaften wirkt sich nicht negativ auf das Arbeitskampfvolumen der USA auf, weil während der Werbung um Anerkennung keine Streiks erlaubt sind. Zwischen 2000 und 2008 fielen in den USA pro Jahr im Schnitt 30 Arbeitstage je 1.000 Arbeitnehmer durch Streiks aus. Das waren zwar sechsmal so viele Ausfalltage wie in Deutschland, aber nur ein Fünftel des kanadischen Arbeitskampfvolumens.
In den USA zahlt sich eine Gewerkschaftsmitgliedschaft aus. Die gewerkschaftliche Lohnprämie liegt im Durchschnitt bei 10 Prozent. Dennoch befindet sich der Organisationsgrad mit 11,8 Prozent – insgesamt sind 14,8 Millionen Arbeitnehmer organisiert – auf einem historischen Tief. In der Hochphase während der 1940er und 1950er Jahre waren noch etwa 35 Prozent organisiert. Seitdem kam es zu einem kontinuierlichen Niedergang. Damit befinden sich die amerikanischen Gewerkschaften in einer schweren Krise.
Reaktionen auf diese Krise gingen vor allem vom Dachverband AFL-CIO aus. Der 1995 gewählte Präsident der AFL-CIO, John Sweeney, stand in besonderem Maße für diese Neuorientierung. Neben einer finanziellen und organisatorischen Förderung der Mitgliederwerbung („organizing“) sorgte er vor allem auch für die Ausweitung von konfrontativ und öffentlichkeitswirksam geführten Kampagnen. Die Gewerkschaftsbewegung sollte sich vermehrt als eine soziale Bewegung verstehen und Koalitionen mit vergleichbaren Akteuren wie z.B. Bürgerrechtsgruppen eingehen. An die Stelle des traditionellen pragmatischen „bread and butter unionism“ trat der „social movement unionism“.
Mit diesem Wandel wurde die Krise der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung aber nicht wirklich überwunden. Im Jahr 2005 verließen vier der größten Gewerkschaften den Dachverband AFL-CIO und gründeten die Konkurrenzorganisation „Change to Win“. Dies geschah ironischerweise mit der gleichen Zielsetzung, mit welcher der 2005 noch amtierende AFL-CIO Präsident Sweeney die AFL-CIO neu ausgerichtet hatte – nämlich mehr Mitgliederwerbung.
(Quelle: Institut für Wirtschaftsforschung / IW Köln)