Von Prof. Dr. Gert G. Wagner, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Der Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder.
Im Zusammenhang mit dem Anstieg der Beschäftigung in Deutschland, den viele der Agenda 2010 zuschreiben, wird als dunkle Seite immer wieder die Ausweitung des Niedriglohnsektors und prekärer Beschäftigungsverhältnisse genannt. Dabei wird vergessen, dass untypische Arbeit keineswegs neu ist. Hinter prekärer Beschäftigung stehen vielmehr uralte Probleme des deutschen Sozialstaats. Eine grundlegende Reform ist niemals gelungen. Aber die Zeichen mehren sich, dass aufgrund der Vielzahl der Probleme in der nächsten Legislaturperiode eine größere Reform gelingen könnte.
Zu den nur historisch erklärbaren Besonderheiten der deutschen sozialen Sicherung gehört die Sonderversorgung der Beamten. Diese sind mit einem eigenen System der Kranken- und Altersversorgung abgesichert. Und trotz einer hundertprozentigen Absicherung zahlen Beamte nicht in die Arbeitslosenversicherung ein. Immerhin führt die Beamtenversorgung nicht zu Problemen der sozialen Sicherung im Alter. Die Versorgung ist immer noch recht üppig im Vergleich zur Lage übriger Arbeitnehmer. Ganz anders ist das bei der zweiten großen Gruppe, die nicht in die gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung einbezogen ist: den Selbständigen.
Warum Selbständige nicht gesetzlich versichert sind (wie dies im Ausland oft der Fall ist), ist nur historisch zu erklären. Denn es ist keineswegs so, dass Selbständigkeit vor Problemen bei der Alters- und Krankenversorgung schützt. Vielmehr gab es schon immer Selbständige und deren Hinterbliebene, die im Alter Sicherungsprobleme hatten. Und Selbständigkeit ist keineswegs dauerhaft. Immer mehr Menschen sind – teilweise aus schierem Mangel an Alternativen – nur für einige Jahre selbständig. Sie können später auf kein großes Vermögen zurückgreifen, und die versicherungslosen Jahre verstärken im Alter Armutsprobleme. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen lässt deswegen zu Recht prüfen, ob und wie eine Rentenversicherungspflicht für Selbständige zu realisieren wäre.
Ein weiteres Phänomen von Versicherungsfreiheit gibt es im Rahmen ansonsten wohlausgebauter sozialer Sicherungssysteme nur in Deutschland und Österreich: Mini-Jobs. Wer bis zu 400 Euro im Monat verdient, ist nicht sozialversichert, erwirbt also keine Sicherungsansprüche. Außerdem entfällt die persönliche Einkommensteuerpflicht. Mini-Jobber schätzen, dass sie brutto für netto Geld auf die Hand bekommen. Der Arbeitgeber zahlt pauschal, ohne dass der Mini-Jobber einen Sicherungsanspruch erwirbt.
Wer längere Zeit ausschließlich einem Mini-Job nachgeht, der wird im Alter mit Sicherheit arm sein. Das sind zwar keineswegs Millionen, aber etliche Hunderttausende. Im Lauf der Jahre wird sich dies zu einem Akzeptanzproblem der Alterssicherung auswachsen. Außerdem ist nur schwer einzusehen, warum ein Privathaushalt, der ein höheres Einkommen hat, die progressive Einkommensteuer umgehen kann. So werden gut verdienende Haushalte, in denen Ehegatten und Kinder nebenbei jobben, faktisch begünstigt.
Fasst man zusammen: Selbst wenn es nicht gelingen wird, das Sondersystem der Beamtenversorgung zu reformieren, sollte nicht nur über die Sozialversicherungspflicht Selbständiger nachgedacht werden, sondern auch über eine Reform der Mini-Jobs. Grundsätzlich sollte für alle Genannten eine Versicherungspflicht gelten; Übergangsregelungen können die damit verbundenen Belastungen abmildern.
Wer auf einen Mini-Job angewiesen ist, der wird von der normalen Einkommensteuerpflicht nicht belastet. Außerdem könnte der Gesetzgeber für den unteren Einkommensbereich über Steuerentlastungen nachdenken. Im Gegenzug ist im oberen Bereich noch Spielraum für eine Erhöhung der Belastung. Höhere Steuereinnahmen werden auch nötig sein, um im Zug des demographischen Wandels (also der Alterung der Gesellschaft) mit Hilfe des Bundeszuschusses das Niveau der Altersversorgung für die Mehrheit der Beschäftigten erkennbar oberhalb der Armutsgrenze zu halten.