Psychologie der Diskretion: Eine Reise in sich hinein und über sich hinaus

Die wöchentliche Business-Kolumne von Ulrich B Wagner

 

Heute: Psychologie der Diskretion:

oder das Recht auf Geheimnisse in Zeiten des Internet

 

„Das Recht auf Wissen, das Recht auf Fragen wird durch das Recht auf Geheimnis begrenzt“

Georg Simmel, dt. Soziologe, 1858 – 1918

 

Am 16.November 1905 hielt der deutsche Soziologe Georg Simmel in Berlin einen Vortrag mit dem Titel „Psychologie der Diskretion“. 105 Jahre später, Georg Simmel ist mittlerweile, lässt man das eine oder andere soziologische Grundlagenseminar außer Acht, in Vergessenheit geraten, und sein Vortrag, der später in den gleichnamigen Aufsatz mündete, erst Recht.

 

Simmels Aufsatz, in seiner Grundtendenz sehr stark auf Partnerschaft und Ehe ausgerichtet, besitzt dennoch, liest man ihn über den Tellerrand hinaus, eine enorme Aktualität und Brisanz. Gleich zu Beginn die klare Definition des seelischen Eigentums: „Wie das materielle Eigentum gleichsam eine Ausdehnung des ICH ist, und wie deshalb jeder Eingriff in den Besitzstand als eine Vergewaltigung der Persönlichkeit empfunden wird, so gibt es ein seelisches Privateigentum, in das einzudringen eine Lädierung des Ich in seinem Zentrum bedeutet.“  Um was es Simmel dabei geht, ist der im Zuge der Modernisierung und Individualisierung aufkommenden Tendenz der Psychologisierung der Lebenswelt, und der damit verbundenen Gefahr des „geistigen Antastens“ all dessen, was dem Anderen ist, um der Indiskretion und der Respektlosigkeit entgegenzutreten. Müssen wir wirklich alles über den Anderen wissen? Wollen wir wirklich Alles über den Anderen wissen? Ihn durchleuchten und abscannen? Bei allem Recht, das ein jeder von uns hat, von seinem Gegenüber die Wahrheit zu erfahren, Informationen zu erhalten, die es ihm erlauben, im geschäftlichen Umfeld auch ruhigen Gewissens miteinander zu arbeiten und Geschäfte zu machen: Wie viel Sichoffenbaren und Sichverschweigen brauchen wir? Oder, um es mit Simmel zu sagen: „dass die Freunde gegenseitig nicht in die Interessen- und Gefühlsbezirke hineinsehen, die nun einmal nicht in die Beziehung eingeschlossen sind und deren Berührung, die Grenze des gegenseitigen Sichverstehens schmerzlich fühlbar machen würde.“

 

Natürlich möchten wir etwas erfahren über den Menschen, mit dem wir uns umgeben, mit dem wir in „Beziehung“ treten. Selbstverständlich sind wir berechtigt, uns über seine Vergangenheit und Gegenwart Klarheit zu verschaffen, über die moralische Beschaffenheit, über sein Temperament, sein Umfeld etc., um unsere Entscheidung zur Beziehung oder unsere Ablehnung vor uns und anderen zu begründen. In der Regel wissen wir über Andere auch mehr, als diese bereit wären, uns willentlich zu offenbaren, eine Grauzone der Indiskretion, die rein durch psychologische Beobachtung und durch Nachdenken entsteht. Es ist heute noch häufiger zu beobachten als zu Georg Simmels Zeiten, wie Menschen mit (psychologischen) Tricks und Hinterhältigkeiten in das Private des Anderen hineinrutschen und die Grenze der Diskretion verletzen. „Tatsächlich kann die auf diese Weise geübte Indiskretion ebenso gewalttätig und moralisch unzulässig sein wie das Horchen an fremden Türen und das Hinschielen auf fremde Briefe.

 

Diese Grenzen der Diskretion auszuleuchten und einzuhalten, war in der Regel zu allen Zeit schwer, doch treffen wir heute auf ein weiteres Problem: die Chancen und Gefahren des Worl Wide Web. Wir finden Menschen, die sich auf Facebook, Xing, Twitter oder wie die ganzen Social Media Netzwerke auch immer heißen, sich im wahrsten Sinne des Wortes bis auf den letzten Winkel ihrer Seele freizügig und freigiebig entblößen. Wir erfahren Dinge, die uns er- und verschrecken. Wir werden in eine Intimität gezwungen, die den Respekt und die Achtung für den Anderen in Richtung Nullpunkt verschiebt. An dieser Stelle ist diese seelische und/oder körperliche Nacktheit nicht bohrenden Nachfragens geschuldet, sondern einer falsch verstandenen, naiven, fast schon an Dummheit grenzenden Offenheit.
Mittlerweile florieren Unternehmen, die sich darauf spezialisiert haben, die Spuren, die diese naiven Exhibitionisten im Netz hinterlassen haben, und sich so gegenüber Unternehmen und Mitmenschen selbst diskreditierten, mit einigem Aufwand wieder zu löschen.

 

Wir leben noch in einer Übergangszeit, einer Zwischenzeit des noch auszuhandelnden Vertrags der beteiligten Kommunikationspartner. Auf der einen Seite die Kommunikationsunternehmen, Netwerkbetreiber, Software- und Hardwarelieferanten, die sich den gläsernen Konsumenten nicht nur wünschen, sondern ihn auch mit einigen technischen Tricks und Schlichen bis auf die Unterhose und manchmal weit darüber hinaus ausziehen. Auf der anderen Seite naive Verbraucher und Nutzer, die bereitwillig und grob fahrlässig ihre Spuren im World Wide Web hinterlassen und/oder auch noch aktiv befüttern. Menschen, die den Moloch mit ihren privaten Geschichten, Anekdoten, Fotos, Videos und Intimitäten anheizen, meist mit dem irrigen Glauben, sie befänden sich ja in einer geschlossenen Gemeinschaft. Sagen wir es an dieser Stelle nochmals mit den Worten Georg Simmels: „Da liegt denn die Chance nahe, dass man sich eines Tages mit leeren Händen gegenübersteht, dass die dionysische Schenkseligkeit eine Verarmung zurücklässt, die noch rückwirkend – ungerecht,  aber darum nicht weniger bitter – sogar die genossenen Hingaben und ihr Glück Lügen straft. Wir sind nun einmal so eingerichtet, dass wir nicht nur einer bestimmten Proportion von Wahrheit und Irrtum als Basis unseres Lebens bedürfen, sondern auch einer solchen von Deutlichkeit und Undeutlichkeit im Bilde unserer Lebenselemente. Was wir bis auf den letzten Grund deutlich durchschauen, zeigt uns eben damit die Grenze seines Reizes und verbietet der Phantasie, ihre Möglichkeiten darein zu weben, für deren Verlust keine Wirklichkeit uns entschädigen kann.

 

Wir müssen die unterschiedlichen Kontexte unterscheiden und achten lernen, in denen wir die eine oder andere Information austauschen. Wie schreibe ich wem für welchen Anlass  eine SMS, E-Mail, Brief oder suche die persönliche Kommunikation.

 

Wo sind in Freundschaften, Partnerschaften und Ehen die Grenzen der Offenheit? Habe ich als Partner, Freund oder Ehemann das Recht das „persönliche“, ihm eigene, private Mobiltelefon, das E-Mail Postfach, das Laptop etc. des Anderen auszuspionieren. Muss ich wirklich alles von oder über den Anderen wissen.

 

Gerade in Beziehungen halte ich es daher lieber mit Georg Simmel: „Der andere soll uns nicht nur eine hinzunehmende Gabe schenken, sondern auch die Möglichkeit, ihn zu beschenken, mit unseren Idealisierungen und Hoffnungen, mit seinen verborgenen Schönheiten und ihm selbst unbewussten Reizen. Der Ort … an dem wir all dies von uns, aber für ihn Hervorgebrachte deponieren, ist der undeutliche Horizont seiner Persönlichkeit, das Zwischenreich, in dem der Glaube das Wissen ablöst.

 

Ich denke, wir sind alle aufgefordert, in diesem Sinne unser Kommunikationsverhalten zu überprüfen, sowohl im geschäftlichen, als auch im privaten Kontext, insbesondere in unseren Partnerschaften. Ich möchte an dieser Stelle letztmalig Georg Simmel zu Worte kommen lassen, auch um aufzuzeigen, dass dieser über 100 Jahre alte Text auch in der heutigen, schnellen Zeit des Internets nicht an Bedeutung verloren hat: „An diesem Mangel gegenseitiger Diskretion, im Sinne des Nehmens und Gebens, gehen sicher viele Ehen zugrunde, das heißt, verfallen in eine reizlos banale Gewöhnung, in einer Selbstverständlichkeit, die keinen Raum mehr für Überraschungen hat. Die fruchtbare Tiefe der Beziehungen, die hinter jedem geoffenbarten Letzten noch ein Allerletztes ahnt und ehrt, die auch das sicher Besessene täglich von Neuem zu erobern reizt, ist nur der Lohn dieser Zartheit und Selbstbeherrschung, die auch in dem engsten, den ganzen Menschen umfassenden Verhältnis noch das innere Privateigentum respektiert, die das Recht auf Frage durch das Recht auf Geheimnis begrenzen lässt.

 

Vielleicht können Georg Simmels Überlegungen beim nächsten virtuellen Ausflug schützend wirken. Vielleicht helfen Sie aber auch, den Partner in Liebesbeziehungen wieder als das zu sehen, was Liebe ausmacht: ein Geheimnis.

 

Ihr

Ulrich B Wagner

 

 

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Profil des Autors:

 

Ulrich B. Wagner, Jahrgang 1967, studierte Psychologie, Soziologie und Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang von Goethe Universität in Frankfurt am Main. Er ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Kommunikation, Coaching und Managementberatung (ikcm) mit Sitz in Bad Homburg und Frankfurt am Main und gleichzeitig Dozent an der european school of design für Kommunikationstheorie sowie Werbe- und Konsumentenpsychologie. Ulrich Wagner arbeitet als Managementberater und systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikations- und Rhetoriktrainings, Personalentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

 

Zu erreichen: via Website www.ikcm.de, via Mail uwagner@ikcm.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).


        
 

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