… ein Fachbeitrag von Jürgen Richter, Inhaber von catalyso – empower people, zum Thema "Arbeitsmarkt und moderne Sklaverei".
Wer hätte sich jemals vorstellen können, George Orwells „1984“ als vergleichsweise humane Welt zu betrachten? Wahrscheinlich niemand. Jedenfalls nicht, bis der Spiegel-Artikel „Frei schwebend in der Wolke“ in der Ausgabe 6/2012 erschien. Darwins Evolutionstheorie findet hier eine ganz neue Bestätigung in der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts; jedenfalls wenn man den Ideen folgt, welche die IBM und mit und vor ihr in Ansätzen schon andere in eine „moderne“ Gestaltung der Arbeitswelt hineinbringen.
Der Mitarbeiter wird im Wesentlichen ausgelagert. Eine Rumpfkernmannschaft bleibt im Unternehmen erhalten. Ihr obliegen die Koordination, die operativen Basisaufgaben und eventuell noch die Ausübung des lästigen und nicht vermeidbaren Kundenkontakts, den man einfach benötigt, wenn man verkaufen und den Kunden bei der Stange halten will. Die Arbeit wird an beliebig austauschbare Experten ausgelagert, die man sich fallweise aus dem Netz rekrutiert. Dazu werden Informationen über sie in öffentlich verfügbaren Vermarktungsplattformen im Stile von ebay gespeichert, die nicht nur möglichst viel über ihr Wissen und ihre fachlichen Fähigkeiten wiedergeben, sondern gleich auch noch über ihr Privatleben. Vor allem stehen da zusätzlich die Beurteilungen eines jeden drin, der etwas zur Person oder ihren Fähigkeiten sagen möchte im Sinne von „gefällt“ oder „gefällt nicht“.
Das Fallbeil der willkürlichen Drittbeurteilung wird zum Qualifikationsmerkmal für jeden einzelnen. An die Stelle der Gatter, in denen früher Sklaven bis zum Verkauf gehalten wurden, treten nun moderne Käfige der Ära der sozialen Plattformen. Das Gute, das in Ihnen steckt, wird so pervertiert. Es geht nicht mehr darum, zu erleichtern, dass sich die richtigen Menschen finden und sich auch im realen Leben möglichst eng und anhaltend verbinden. Völlig schamfrei wird Menschenhandel und Arbeitskraftprostitution im globalen Maßstab propagiert. Der Arbeit- oder besser Auftraggeber kauft sich die „Ressource“ Mensch temporär irgendwo auf der Welt ein, wo sie eben gerade am billigsten ist und die besten Beurteilungen der „Community“ der Abnehmer erhält. Nachdem die Billiglohnländer auch in Asien knapp werden, tut sich hier Afrika als valide Alternative auf. Nur diesmal muss man die Sklaven nicht einmal mehr verschiffen. In einer vernetzten Welt kann man sie gleich dort lassen, wo sie sind. Und was passiert mit dem, der nicht genügend Bewertungssterne hat? Pech gehabt. Der fällt einfach durchs Raster. Ist ja auch egal. Es gibt ja, vermeintlich, genügend Experten – das ebay-Prinzip in der Personalwirtschaft. Einen gewissen Schwund hat man eben immer. Und ganz nebenbei entledigt man sich auch noch der lästigen Pflicht, ungeliebte Arbeitsgesetzgebungen befolgen zu müssen. Auf den Kasino-Kapitalismus, der die Finanzkrise des Jahres 2008 auslöste und der heute wieder mehr denn je unsere Finanzmärkte dominiert, soll jetzt der moralische Leerverkauf der Arbeitgeberverantwortung folgen.
Um keinen falschen Eindruck zu erwecken – hier geht es nicht darum, den Kapitalismus zu steinigen, der uns unbestrittenen Wohlstand gebracht hat. Es geht schon gar nicht darum, einem Populistiksozialismus im Stile eines Oskar Lafontaine oder eines Gregor Gysi das Wort zu reden. Hier geht es um die Frage des Umgangs miteinander, der sozialen Verantwortung und vor allem auch um die Basis des wirtschaftlichen Erfolgs, der uns den Wohlstandszuwachs der vergangenen Dekaden seit dem Ende des zweiten Weltkriegs beschert hat. Wovon reden wir denn hier eigentlich? Reden wir von Menschen? Was bestimmt den Erfolg von Unternehmen? Ist es nicht die „Idee“ des Unternehmers, sein Wagemut in Verbindung mit den motovierten Menschen, die ihm folgen? Sind es nicht Menschen, die das Unternehmen als das IHRE betrachten? Der Schwabe im Stuttgarter Raum hat „beim Daimler g‘schafft“. Ein andere Redewendung charakterisiert ebenso die Identifikation des Mitarbeiters mit SEINEM Unternehmen: “Halt‘ dei‘ Gosch‘, i‘ schaff‘ beim BOSCH!“
Was bestimmt im Letzten den unternehmerischen Erfolg? Es sind die Menschen und vor allem auch ihr Zusammenspiel. Und – es ist das Zusammenspiel, das durch ein Zusammenwachsen über Jahre hinweg entsteht. Wie gut können Menschen zusammenspielen, die man temporär willkürlich zusammenwürfelt und die am Ende nur noch virtuell kommunizieren? In eng begrenzten Aufgabenstellungen mag das im Einzelfall funktionieren. Aber der nachhaltige Unternehmenserfolg wird bestimmt von Menschen, die sich langfristig, an der Sache orientiert und in persönlicher Verbundenheit mit dem Unternehmen, ihren Kollegen, Vorgesetzten, Kunden, ja sogar Lieferanten und anderen Dienstleistern, das heißt am Ende auch mit den Menschen dieses Unternehmens und seiner Geschäftspartner identifizieren. Wie soll das bei wahlfrei willkürlich und zeitlich mehr oder minder eng zusammengewürfelten Haufen funktionieren; noch dazu, wenn die zu einem hohen Anteil nur virtuell zusammenarbeiten und sich nicht einmal mehr persönlich kennen?
Viele Untersuchungen, unter anderem der jährlich erscheinende Engagement Index des Gallup Instituts weisen nach, wie wichtig die persönliche Bindung des Mitarbeiters an das Unternehmen für seine Loyalität ist. Die spiegelt sich besonders in seinem Verhältnis zu seinem unmittelbaren Vorgesetzten wider. Je positiver dieses Verhältnis ist, desto loyaler ist der Mitarbeiter. Leistungswille und Produktivität werden zudem bestimmt vom Grad der Selbstbestimmung, von der Möglichkeit, sein eigenes Arbeitsumfeld aktiv mitzugestalten und von der Wertschätzung die ein Mitarbeiter erfährt. Nun kann man entgegenhalten, dass es ja gerade der selbstständig arbeitende Mensch ist, der sich seine Arbeitswelt gestalten kann. Aber welche Freiheit der Gestaltung hat dieser Mensch, wenn er seine Haut billig zu Markte tragen muss, wie ein Sklave im Amerika des 19. Jahrhunderts und sich von jeder willkürlichen Beurteilung abhängig sieht.
Und nochmal – welche Nachhaltigkeit kann in einem Umfeld entstehen, in dem Menschen zur beliebigen Verschiebeware mutieren, die man wahlfrei zusammenwirft und wieder auseinander reißt. Wie können diese Menschen Wertschätzung erfahren, wenn eine persönliche Bestätigung und die Vermittlung von Wertschätzung kaum mehr möglich sind? Daran krankt es schon heute in unserer noch nicht vollständig virtualisierten Arbeitswelt. Die vielfach dokumentierte jährliche Zunahme der Arbeitsunfähigkeitsfälle aufgrund psychischer Erkrankungen und deren Ursachenerforschung belegen dies eindrucksvoll. Burnouts sind inzwischen eine Volkskrankheit und nicht die Modeerscheinung, als die sie rückwärtsgewandte Skeptiker und „Weiter-So“ Betonköpfe gerne abtun möchten.
Kann deshalb eine Arbeitswelt der Zukunft so aussehen, wie sie in dem oben genannten Spiegelartikel skizziert wird? Nicht, wenn der Gedanke des nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolgs im Vordergrund steht. Der beruht auf Wertschöpfung. Und diese findet ihre stärkste Wurzel in der Wertschätzung, die der Mensch auch im Arbeitsleben erfährt, auf den Freiraum, den er hat, seine Fähigkeiten einzubringen und seine Kreativität zu entfalten. Schon Bismarck hat erkannt wie wichtig die Arbeitskraft des Menschen für die Wirtschaft ist, indem er den negativen Auswirkungen des ausbeuterischen Manchester-Kapitalismus durch eine, auf den Erhalt der Arbeitskraft hinzielende, Sozialgesetzgebung zu begegnen versuchte. Er tat dies gewiss nicht aus purer Menschlichkeit, sondern aus der schieren Erkenntnis heraus, dass nur der leistungsfähige Mensch auch den wirtschaftlichen Fortschritt unterstützen kann. Gleiches gilt heute im Blick auf die Gestaltung der Arbeitswelt und den Umgang mit den Menschen darin. Unsere Unternehmen sind auf die Menschen angewiesen und zwar nicht nur auf die hochqualifizierten. Die Stärke im Wettbewerb wird künftig mehr und mehr davon bestimmt, wie gut die Unternehmen im Wettbewerb darum bestehen, die richtigen Menschen zu finden und an sich binden zu können. Dieses Problem wird sicher nicht dadurch gelöst, dass wir willkürlich Leute von überall her virtuell und mehr oder minder kurzfristig zusammenwürfeln. Gerade in einem Land wie Deutschland, in dem die Zahl der Arbeitskräfte Jahr für Jahr um 300.000 zurückgeht, brauchen wir andere Antworten auf diese Herausforderung.
In diesem Sinne …
Ihr Jürgen Richter
Zum Autor:
Jürgen Richter ist seit fünf Jahren selbstständiger Unternehmensberater und unterstützt Führungskräfte bei spezifischen Führungsthemen. Zuvor durchlief er eine typische Laufbahn in der ERP-Industrie und war zuletzt Vorstand einer mittelständischen Softwarefirma. Insgesamt verfügt er über 30 Jahre Führungserfahrung. Kernthemen seiner Arbeit sind Mensch, Prozesse und Organisation. Eine wesentliche Kernkompetenz ist die Aufstellung in Sachen ERP, angefangen von Ausschreibungsverfahren über Verträge bis hin zum Setup und zur Begleitung von Projekten. Dazu gehört auch die Intervention bei in Schieflage geratenen Projekten. Hauptzielgruppen sind mittelständische Unternehmen der Nahrungs- und der Pharmaindustrie in einer Größenordnung von etwa 300 bis 1.500 Mitarbeitern.