Interview mit Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln

Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, sind vor allem zwei Dinge wichtig: Er will seine Meinung sagen dürfen und sich regelmäßig Ruhe gönnen. Ein Expertengespräch über Freiheit.

Es ist ein sonniger Tag in Bad Saarow, südöstlich von Berlin. Michael Hüther und seine Frau haben hier vor Kurzem ein Haus gebaut. Jetzt, in den warmen Sommerwochen, arbeitet der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln aus dem Urlaubsdomizil der Familie – häufig allein, wenn Frau und Sohn in Wiesbaden sind. Vom Arbeitszimmer aus blickt Hüther auf den Scharmützelsee. An dessen Ufer verläuft auch die Lieblingslaufstrecke des prominenten Ökonomen. Heute läuft er in Begleitung der "Welt am Sonntag" los. Ob er ahnt, dass sein Laufpartner das letzte Mal vor sechs Jahren gejoggt ist?

Herr Hüther! Wir müssen doch noch dehnen.

Nein, das macht man nicht mehr. Ist das Ihr Ernst?

Ich bin früher Wettkämpfe gelaufen; damals haben wir im Training mehr Zeit mit Dehnen als mit Laufen verbracht.

Mein Personal Trainer hat gesagt, dass ich nicht dehnen muss.

Sie haben einen Personal-Trainer?

Ja, den habe ich mir vergangenes Jahr genommen, um zu sehen, was ich falsch mache beim Laufen.

Bringt das was?

Absolut, das lohnt sich wirklich. Ich laufe seit dem Studium, seit 30 Jahren. Aber in der Zeit habe ich mich kaum weiterentwickelt. Abends sieben Kilometer in einer Dreiviertelstunde; das war meine Routine. Ich hätte nie gedacht, dass ich das auf 20 Kilometer verlängern kann.

Wie hat der Trainer Sie denn auf Trab gebracht?

Der Trainer hat mir vor allem gesagt, dass ich mich nicht scheuen sollte, erst mal geflihlt langsam loszulaufen. Und auch dann weiterzulaufen, wenn ich glaube, es geht nicht mehr.

Gegen den Schmerz?

Nein, wenn meine Beine sich müde anfühlen. Und wenn ich denke, es geht nicht mehr, dass es trotzdem noch weitergeht. Und dass es hilft, wenn ich das Ziel kenne und weiß, wo ich hinlaufe. Heute soll es Richtung Süden gehen; sieben Kilometer bis zu einem Golfhotel und dann wieder zurück.

[Zunächst führt die Strecke weg vom See auf eine Landstraße.]

Der Friedrich-Engels-Damm. Und auf der anderen Seite des Sees führt der Karl-Marx-Damm lang. Witzig, oder?

Ich werfe den beiden nicht viel vor. Ihren Interpreten schon; denen bin ich beinahe schon persönlich böse.

Warum?

Meine Familie kommt aus Mitteldeutschland, und meine Großeltern haben im Ostharz gewohnt. Die Erinnerungen an die Besuche dort haben sich wirklich eingebrannt. Wenn wir mit dem Interzonenzug zu Oma und Opa gefahren sind – das war für mich als Kind sehr beklemmend. Wir standen eine Stunde oder sogar noch länger an der Grenze bei Marienborn, wurden kontrolliert und durften nicht raus.

Und jetzt verbringen Sie hier in Brandenburg Ihre Wochenenden. Das ist schon faszinierend, oder?

Meine Mutter ist 1956 aus der DDR geflohen. Als ich ein Kind war, sind wir immer wieder in die DDR gefahren, und heute wohne ich hier.

Können Sie sich erinnern, wie es war, als die Mauer fiel?

Damals war ich 27. An dem Abend hatte ich die Abgabe meiner Dissertation gefeiert. Ich hatte meine Kollegen vom Lehrstuhl und die Institutssekretärin zu mir nach Hause eingeladen und für sie gekocht. Dort haben wir gehört, was passiert ist. Ich fand das, was Schabowski damals gesagt hat, zuerst recht banal. Das ging vielen Westdeutschen so. Das klang ja auch ziemlich unspektakulär. Es ist wirklich erstaunlich, dass den Bürgern der DDR gleich klar war, was das bedeutet. Da merkt man, dass da einfach was in der Luft lag.

[Direkt am Ufer liegt eine verlassene DDR-Feriensiedlung. Die staatseigenen Betrieb teilten damals Mitarbeitern einen Wohnwagen oder ein Ferienhäuschen zu. Einfach in Urlaub zu fahren war schwierig.]

Wir im Westen Geborenen hatten schon immer alle bürgerlichen Freiheiten. Politisch auf jeden Fall. Aber viele Menschen geben freiwillig ihre Freiheit auf. Frei sein bedeutet für mich, Alternativen zu haben, Ja und Nein sagen zu dürfen. Das klingt vielleicht banal, aber wie viele Leute trauen sich eigentlich noch ihre Meinung zu sagen? Und wie viele geben für Geld und Macht ihre Meinung auf?

 

Wie steht es um Sie selbst?

Ich fühle mich überhaupt nicht eingeengt. Ich denke, ich bin nah dran an diesem Ideal.

Mussten Sie sich diese Freiheit erst erkämpfen?

Eigentlich schon. Mein Vater war recht autoritär, aber ich habe mich trotzdem nie davon abbringen lassen, zu tun, was ich wollte.

Das klingt nach Ärger.

Oh ja! Meine Eltern konnten anfangs nicht viel damit anfangen, dass ich Geschichte und Volkswirtschaftslehre studieren wollte.

Das sind doch altehrwürdige und seriöse Disziplinen.

Sicher, aber mein Vater dachte schon, dass ich Ingenieur werde. Er selbst hat sich bei den Vereinigten Kesselwerken hochgearbeitet vom Lehrling mit Volksschulabschluss zum Abteilungsleiter. Sein eigener Vater hatte dort schon gearbeitet. Und bei uns zu Hause herrschte die Vorstellung, dass wir kleinen Leute schon irgendwie nach oben kommen, wenn wir uns anstrengen. Volkswirtschaftslehre, das war für meinen Vater eine brotlose Angelegenheit.

Und heute sind Sie einer der bekanntesten Ökonomen der Republik. Wie beschränkt sind Sie dadurch, dass Ihr Institut von den Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden finanziert wird? Sie können sicherlich nicht alles sagen, was Sie wollen.

Doch, das können wir. Wir sind nur dem Grundgesetz verpflichtet. Und daraus leiten wir für die Wirtschaft das freie Unternehmertum, Privateigentum und Sozialverantwortung ab. Das sind die Vorgaben unserer Arbeit. Dass wir dabei unabhängig sind, haben wir hinreichend bewiesen. Denken Sie an unsere Vorschläge zur obligatorischen Rekapitalisierung der Banken.

Die widersprechen nicht Arbeitgeber-Interessen.

Aber wir sind auch ein Institut der Wirtschaftsverbände, dazu gehört auch der Bankenverband. Der wird sich nicht darüber gefreut haben. Wir waren immer gegen die Steinkohlesubventionen, obwohl der Bergbauverband bei uns Mitglied ist. Theoretisch hätten wir jeden Tag einen Konflikt mit unseren Gesellschaftern, aber jeder weiß, dass wir kein Verband sind, sondern eine Forschungseinrichtung.

Ärgert es Sie, wenn Journalisten das IW als "arbeitgebernah" bezeichnen?

Ich denke dann: Eigentlich ist dieser Zusatz überflüssig. Das scheint eine Gepflogenheit zu sein, die ich für völlig unnötig halte. Unsere Finanzierung kommt von zwei Seiten, von Wirtschaftsverbänden und Arbeitgebern und von Einzelunternehmen wie der Lufthansa oder der Deutschen Börse. Deshalb ist dieser Begriff "arbeitgebernah" viel zu eng.

Vergangene Woche haben Sie mit Gustav Horn, dem Leiter des gewerkschaftsnahen Instituts IMK, eine Antwort auf den Protestbrief von Hans-Werner Sinn und anderen Ökonomen geschrieben. Eine ungewöhnliche Allianz.

Gustav Horn und ich sind wahrlich keine Seelenverwandten. Und wir haben ja auch durchaus unterschiedliche Meinungen zur Euro-Krise. Er ist für Euro-Bonds, und ich bin dagegen. Er hält die Sparanstrengungen für zu stark, und ich halte sie für angemessen. Aber wir waren beide empört über den Aufruf. Der schürt Ängste und zielt nur auf Emotionen ab. Bei mir hat das einfach Widerstand ausgelöst.

Und wie haben Sie zusammengefunden?

Das war spontan. Horn und ich hatten über den Aufruf gemailt. Und gerade als ich ihm geantwortet hatte, rief Bert Rürup an, weil er Mitstreiter für eine Antwort suchte. Wir waren uns einig, nur eine kleine Gruppe zu versammeln, aber die sollte aus Wirtschaftswissenschaftler mit möglichst unterschiedlichem Hintergrund bestehen. Rürup hatte auch bei Horn angerufen, um ihn ins Boot zu holen, und ich habe mit Thomas Straubhaar vom Hamburger HWWI gesprochen. Wir hatten den Kreis relativ schnell zusammen.

Wünschen Sie sich gelegentlich, in der freien Wissenschaft zu arbeiten, wo Sie ganz nach Gusto forschen können?

Aber das tue ich doch! Ich habe das Riesenglück, dass ich tue, was mich auch interessiert. Meine Arbeit war immer anwendungsorientiert, es ging nie um Esoterik, nie um Glasperlenspiele. Was ich mache, muss relevant und verständlich sein. Aus den Universitäten ist doch praktisch nichts Gehaltvolles zur Krise gekommen. Die Forschungsinstitute und die Bankenvolkswirte haben die Debatte viel maßgeblicher mitbestimmt als die akademische Ökonomie.

Woran liegt das?

Daran, dass die Forschung in der Universität nicht daran gemessen wird, ob sie Realitätsbezug hat. Eine didaktisch wertvolle Vorlesung ist dort weniger wert als ein Artikel in einer renommierten Fachzeitschrift, der eine marginale Veränderung an einem Modell beschreibt. Ich würde meinem Sohn nie empfehlen, heute noch VWL zu studieren. Das wird er auch nicht machen. Wollen wir auf den Steg?

[Der Weg hat den Wald verlassen und führt über einen kurzen Strand. Über den Steg bläst ein kühlerer Wind.]

Ich bin erschüttert, wie wenig Sie von der akademischen Ökonomie halten.

Wissen Sie, es geht mir einfach auf den Senkel. Gerade bei den jüngeren Kollegen erlebe ich eine solche Borniertheit. Die sind zu Recht stolz auf das, was sie leisten und was sie neu herausgefunden haben. Aber deshalb muss man doch nicht gleich alles, was vorher gemacht wurde, für altbacken und falsch halten. Der Fortschritt ersetzt doch nicht das bisher Gewesene. Es nervt mich unglaublich, wenn sich Kollegen in meinem Alter oder jüngere Kollegen über die frühere Generation erheben. Da höre ich schon gar nicht mehr zu.

Nun könnte das die Arroganz der Jugend sein, die sich noch auswächst.

Ach, Jugend! Mit 45 sollte die eigentlich vorbei sein. Und vor allem: Es zieht sich überall durch. Meine Frau erzählt mir, dass die jüngeren Lehrer an ihrer Schule alle mit einer überdehnten Selbstsicherheit auftreten und mit den Kindern reden, wie sie selbst nie behandelt werden wollten. Sie finden die Parallelen überall. Mir erzählen Personalberater, dass die Banken in Frankfurt nur noch Leute haben wollen, die unkritisch sind und die funktionieren. Die Sozialkompetenz ist völlig irrelevant. Ich verzweifle manchmal, wenn ich solche Geschichten höre.

[Zwei Wegbiegungen später erscheint das Ziel, ein großes Golfhotel. Auslaufen. Und dann wieder zurück Richtung Bad Saarow. Die Gesprächspausen werden länger.]

Wir sind durch einen Urlaub hier im Hotel auf diese Gegend gekommen. Uns hat es so gut gefallen, dass meine Frau sich im Internet nach Immobilien umgeschaut hat. Und gerade in der Zeit stand das Grundstück zum Verkauf, auf dem wir gebaut haben.

Ein glücklicher Zufall.

Ja, die Zufälle lenken unser Leben eher als unsere eigenen Entscheidungen. So viele Menschen denken, sie hätten ihr Schicksal ganz allein in der Hand. Das stimmt einfach nicht.

Wie selbstbestimmt sind Sie denn im Alltag? Können Sie sich Zeit frei räumen zum Laufen?

Ja klar, ich habe auch Zeit zum Urlaubmachen. Es ist Schwachsinn, wenn Leute erzählen, sie könnten nicht freinehmen oder sie müssten mit drei großen Aktentaschen ins Wochenende gehen. Das ist doch absurd. Man muss doch auch mal zur Ruhe kommen und nachdenken. Ich halte das für ein Zeichen schlechter Arbeitsteilung, und das sind meistens auch Menschen, die ihren Mitarbeitern nicht trauen. Geht es bei Ihnen?

[Den letzten Satz musste Hüther schon nach hinten rufen. Er merkt, dass es Zeit ist für eine Aufmunterung.]

Ich habe zwei alkoholfreie Weizen kalt gestellt, für später.

Das klingt wunderbar.

Das ist eine große Errungenschaft.

Alkoholfreies Weizen?

Sicher. Es gibt leider nur ein paar wenige Sorten, die wirklich gut schmecken. Die meisten schmecken überhaupt nicht. Wollen wir weiter?

Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln

 

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