Me, myself and I – Eine Reise in den Weltinnenraum

Die wöchentliche Business-Kolumne von Ulrich B Wagner mit dem Titel "Me, myself and I – eine Reise in sich hinein und über sich hinaus".

Heute: Eine Reise in den Weltinnenraum: Marshall McLuhan zum Geburtstag

Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt
(Johann Wolfgang von Goethe, Die Leiden des jungen Werther)

Im Jahr 1336 entschließt sich der italienische Dichter und Mitbegründer des Humanismus Francesco Petraca zur Besteigung des Mont Ventoux. Keine fixe Idee, sondern wie Petraca in seinem Bericht selbst kundtut, ein lang gehegter Plan, den er bereits seit vielen Jahren mit sich herumgetragen hatte. Ein junger Mann besteigt einen Berg, was soll daran besonders sein, mag der eine oder andere Leser sich gerade denken. Doch wir schreiben das Jahr 1336. Bergsteigen war kein Volkssport, kein Abenteuerurlaub oder sonstiges. Im Grunde mied man den Berg zu dieser Zeit.

Anders Francesco Petraca. Angestachelt durch die Geschichte des Makedonen-Königs Philipp V, dessen Besteigung des Berges Haemus in Thessalien in der Römischen Geschichte des Livius ausführlich geschildert wurde, macht sich Petraca schließlich auf den Weg. Er schildert die Besteigung, das Naturerlebnis und seine Gedanken in einem Brief an einen Pater, der ihm die „Bekenntnisse des Heiligen Augustinus“ mit auf dem Weg gab. Auf seinem Weg, während er die Landschaft auf und ab marschierte auf seinem (Lebens?)Pfad, konnte er auch die Umgebung in allen Himmelsrichtungen geographisch und bewundernd einordnen. In diesem Überschwang des Sehens, der Flut der äußeren Eindrücke, schlug er Augustinus Buch just an der Stelle auf, (wir unterstellen dem alten Humanisten hier mal keine Schwindelei oder Augenwischerei), an der Augustinus schreibt, dass der Blick auf die Außenwelt ein tiefes Empfinden erzeugen kann, jedoch nichts ist im Vergleich zur Sicht in das tiefste Innere: „Und es gehen die Menschen hin, zu bestaunen die Höhen der Berge, die ungeheuren Fluten des Meeres, die breit dahin fließenden Ströme, die Weite des Ozeans und die Bahnen der Gestirne und vergessen darüber sich selbst (und haben nicht acht ihrer selbst).“

Wandern, Bergsteigen kann das Gehen eines Lebensweges darstellen, und Vorrat ist immer genug in einem selbst. Es ist diese Suche, dieses Streben nach dem Selbst, das dieses kleine Büchlein auch heute noch so faszinierend und lesenswert macht. Im Jahr 400 in den Bekenntnissen von Augustinus erstmals beschrieben und von Petraca 1336 wieder aufgegriffen, wird dieses Streben später von Montaigne über Goethe bis hin zu Rainer Maria Rilke, der es in seinen Gedichten Weltinnenraum nennt, zum Mittelpunkt des Seins.

Ein weiterer Aspekt dieses Berichts von Petraca, der mich ursprünglich zu dieser Kolumne verleitete, war jedoch die Sorge um die Auswahl des richtigen Begleiters, die sehr ausführlich von ihm geschildert wurde: Als ich aber über einen Begleiter nachdachte, da erschien mir, so seltsam das klingen mag, kaum einer meiner Freunde dafür richtig geeignet; so selten trifft man selbst unter guten Freunden eine völlige Übereinstimmung aller Neigungen und Gewohnheiten. Der eine ist mir zu träge, der andere zu lebhaft, der ist zu langsam, der zu hastig, der zu trübsinnig, der zu lustig, der hat weniger, und der hat mehr Verstand als mir lieb ist. Beim einen schreckt mich seine Schweigsamkeit, beim anderen seine Geschwätzigkeit, einer ist mir zu schwer und zu fett, wieder einer zu mager und schwächlich. Da stößt mich kalte Teilnahmslosigkeit ab, dort wieder allzu hitziger Eifer. Solcherlei nimmt man, wenn es auch belastend ist, zu Hause in Kauf – die Liebe erträgt alles, wie Paulus sagt, und die Freundschaft nimmt jede Bürde auf sich -, unterwegs aber wird es zu einer allzu schweren Belastung.

Tja, so ist das manchmal mit unseren Freunden. Und hier sind wir auch wieder im Jahr 2011, in dem es die Autoren einer bemerkenswerten Studie mit dem Titel „Google Effects on Memory: Cognitive Consequences of Having Information at Our Fingertips“, die jetzt in der Online-Ausgabe der Fachzeitschrift Sciene erschienen ist, so passend auf den Punkt bringen: „Die Erfahrung, unseren Internetzugang zu verlieren, wird mehr und mehr zur Erfahrung, einen Freund zu verlieren.“

Es ist schon eine Last mit den Freunden, die einen von Zeit zu Zeit nerven, einem die Zeit stehlen, einen mit Informationen überfrachten und bequatschen und die man doch vermisst, ob man will oder nicht. 63% der Deutschen lesen im Urlaub ihre geschäftlichen E-Mails, weitaus mehr davon sind permanent online und posten ihre Urlaubserlebnisse auf Facebook. Willkommen im „globalen Dorf“ wie es das Orakel von Toronto (DER SPIEGEL 29/2011), Marshall Mc Luhan, der am 21. Juli diesen Jahres 100 Jahre alt geworden wäre (Happy Birthday Mr. Mc Luhan), lange vor und ohne das Wissen um das Internet weissagte. Über den Facebook Voyeurismus schrieb er bereits 1970 die treffenden Zeilen: „Genau dann, wenn alle Menschen damit beschäftigt sind, an sich und anderen herumzuschnüffeln, werden sie für die Vorgänge insgesamt anästhesiert.“
Nun ist es jedoch müßig, in Maschinenstürmer-Manier gegen das Internet, Facebook & Co und seine Folgen zu wettern. Sind wir ihnen doch längst verfallen und wollen sie auch nicht mehr missen. Wir erfahren aber gerade in aller Wucht, wie es sich anfühlt, wenn nicht mehr die Zeit die Informationen organisiert, sondern die Informationen unsere Zeit. Wir stecken mittendrin in einer unvergleichlichen epochalen Veränderung und scheinen, jeder für sich, auf seine Art und Weise, den Überblick zu verlieren. Oder, wie es Marshall Mc Luhan, lange vor diesen Veränderungen, so trefflich beschrieb, „Wenn der Zauber eines Spielzeugs oder einer Erweiterung unseres Körpers neu ist, entsteht zuerst eine Narkose oder Betäubung angesichts der neuen Amplifikationen. Die Klagen über Uhren begannen erst, als im neunzehnten Jahrhundert das elektrische Zeitalter zur Unstimmigkeit mit der mechanischen Zeitmessung führte.“

Es wird gerade jetzt, während wir so langsam aus der Narkose erwachen, eine zentrale Herausforderung für jeden von uns sein, uns unserer Zeitlichkeit nicht nur wieder zu vergewissern, sondern auch wieder Herr darüber zu sein. So ist es halt nun mal mit unseren Freunden, nicht alle eignen sich für alles und alle Zeit. Denn wer lädt sich schon gerne Freunde zum Feiern ein, die selbst nach Tagen nicht den Weg nach Hause finden? Ich für meinen Fall werde für meinen Kurzurlaub am Bodensee den geliebt / gehassten ANDROIDEN zuhause lassen und einen Freund aus Fleisch und Blut mitnehmen.

 

In seinem heute wieder hypermodern erscheinenden Buch aus den 70er Jahren, dessen Titel auf einen Druckfehler zurückzuführen ist („Das Medium ist die Massage“), hat Marshall Mc Luhan nämlich bereits beschrieben, was passieren kann. Er beschreibt, wie sich unser Gehirn durch die Medien verändert, wie sich die alte Vorstellung von Individualität und Selbst auflöst, wie sich das Ich verstreut, wie dieses Ich auf der einen Seite absolut wird und auf der anderen Seite zu verschwinden droht. Kurzum Marshall Mc Luhan beschreibt das Internet.

Ein weiter Bogen eines Themas. Zwei wundervolle Bücher, die auch heute noch Freude bereiten und zwei wundervolle Begleiter für eine Reise in den Weltinnenraum.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine spannende Zeit

Ihr

Ulrich B Wagner

 

Buchtipps zur heutigen Kolumne:

– Francesco Petraca: Liebesgedichte / Die Besteigung des Mont Ventoux,
Fischer Taschenbuch

– Marshall Mc Luhan: Das Medium ist die Massage, Klett-Cotta

 

Zum Autor:

Ulrich B. Wagner, Jahrgang 1967, studierte Psychologie, Soziologie und Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang von Goethe Universität in Frankfurt am Main. Er ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Kommunikation, Coaching und Managementberatung (ikcm) mit Sitz in Bad Homburg und Frankfurt am Main und gleichzeitig Dozent an der european school of design für Kommunikationstheorie sowie Werbe- und Konsumentenpsychologie. Ulrich Wagner arbeitet als Managementberater und systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikations- und Rhetoriktrainings, Personalentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

Zu erreichen: via Website www.ikcm.de, via Mail uwagner@ikcm.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).

 

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