Me, myself and I – Rückwärts nach vorn

Die wöchentliche Business-Kolumne von Ulrich B Wagner mit dem Titel "Me, myself and I – eine Reise in sich hinein und über sich hinaus".

Heute: Rückwärts nach vorn
oder: Macht uns das Internet wirklich dumm?

 

Die Vergangenheit fuhr in diese Richtung davon. Konfrontiert mit einer vollkommen neuen Situation neigen wir immer dazu, uns an die Dinge und die Atmosphäre der jüngsten Vergangenheit zu klammern.

Wir sehen die Gegenwart im Rückspiegel. Rückwärts marschieren wir in die Zukunft. Gedanklich lebt die Vorstadt in Bonanza-Land.

Marshall McLuhan, Das Medium ist die Massage

 

Eine Keilschrift aus Ur um 2000 v.Chr. bringt erstmals die menschliche Sicht auf die Zukunft und das Vertrauen auf die nachfolgenden Generationen eindrucksvoll auf den Punkt: „Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe.“ Der griechische Philosoph Aristoteles folgte dieser Sicht, in dem er seine Sorge über die Zukunft des Landes so zum Ausdruck brachte: „Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.“

Die Jugend ist verdorben. Die neuen Technologien verdummen uns. Wir sind alle dem Untergang geweiht. Diese Litanei ist uralt und altbekannt.

Google macht vergesslich. Google vermindert das Gedächtnis. Wir verlernen zu lernen. So die Überschriften in den deutschen Zeitschriften der letzten Woche.

In der Tat beeinflussen Google, Wikipedia & Co. die Art und Weise, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet und abspeichert, so lautet kurz und knapp das Ergebnis der Arbeiten der Psychologin Betsy Sparrow zur Verwendung von Suchmaschinen im Internet. Betsy Sparrow forscht an der Columbia University in New York. Ihre Studie hat sie, wie in der vergangenen Kolumne bereits kurz hervorgehoben, kürzlich im Magazin Science unter dem Titel "Google Effects on Memory: Cognitive consequences of having information at our fingertips." (Zu Deutsch: "Die Auswirkungen von Google auf unser Gedächtnis: Die kognitiven Folgen, wenn Informationen jederzeit zur Verfügung stehen") vorgestellt.

Schon mein alter Lateinlehrer pflegte den Ausspruch: Kinder! Im Leben muss man wirklich nicht alles wissen. Man muss nur wissen, wo es steht!

Machten Bibliotheken, Enzyklopädien & Co. uns in den 70er Jahren aus diesem Grund dumm, lernfaul und vergesslich?

"Unser Gehirn verlässt sich auf das Internet, wie es sich auf das Gedächtnis eines Freundes, Familienmitglieds oder Arbeitskollegen verlässt", erklärt dahingehend auch Betsy Sparrow. "Wir erinnern uns nicht, indem wir etwas Bestimmtes wissen, sondern indem wir wissen, wo wir eine bestimmte Information finden."

 

Daniel Wegner, Professor für Psychologie an der Harvard University, hat dieses Phänomen des "transaktiven Gedächtnisses" (Transactive Memory), des sogenannten Verzeichniswissens, bereits vor fast dreißig Jahren beschrieben. Demnach nutzen Personen das Wissen anderer Menschen quasi als externes Gedächtnis. Eine Abkürzung, die auch im Berufsleben Anwendung findet. Das Wissen ist effizient auf die einzelnen Mitglieder eines Teams verteilt, so dass nicht das gesamte Wissen von einer Person vorgehalten werden muss. Jedes Mitglied trägt stattdessen mit seinem Spezialwissen zur Lösung einer Aufgabe bei. Alle Mitglieder müssen demnach nur wissen, welches Mitglied welches Wissen hat.

In Anlehnung an ihren Doktorvater kommt Sparrow zu dem Schluss, dass Menschen Dinge vergessen, bei denen sie davon ausgehen, diese im Internet zu finden. Sie erinnern sich stattdessen leichter an Informationen, die nicht online verfügbar sind. Und sie merken sich, wo sie eine Antwort finden, statt sich die Antwort selbst ins Gedächtnis zu rufen.

Anders ausgedrückt: Statt zu einer großen Alexandrinischen Bibliothek ist die Welt zu einem Computer geworden, wie Marshall McLuhan es bereits in den siebziger Jahren voraussah.

Das Ergebnis ihrer Studie bedeutet daher keineswegs eine Absage an Technik und Internet, sagt Sparrow. Vielmehr lasse sich daraus ablesen, wie Lehrkräfte ihren Unterreicht umstrukturieren könnten, um ihn dadurch wertvoller zu gestalten. "Wer anderen etwas beibringt – seien es Lehrer, Professoren oder Geschäftsführer – dürfte sich künftig stärker darauf konzentrieren, seinen Fokus auf das Verständnis von Ideen und Denkweisen zu legen, statt auf die Erinnerung."

Wir verklären die Vergangenheit und verteufeln die Zukunft. Wir stecken mit unserem Kopf in der Vergangenheit fest, marschieren schnurstracks mit unserem Allerwertesten in die Zukunft und stellen uns damit in eine gerade Linie zu unserem letzten Kaiser Wilhelm II (1859 – 1941), der 1906 auf der Automobilausstellung in Berlin den denkbaren Ausspruch wagte: „Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist nur eine vorübergehende Erscheinung.“

All die Jahrtausende alten Litaneien über die Jugend und die neuen Technologien sind daher einzig Ausdruck der Furcht und der Trägheit der Alten, die das Neue scheuen wie der Teufel das Weihwasser, und die Möglichkeiten des Neuen aus dem Blickwinkel des Alten betrachten, oder, um letztmalig nochmals Marshall McLuhan zu Wort kommen zu lassen,: „Unsere offizielle Kultur versucht mit aller Macht, den neuen Medien die Aufgaben der alten aufzubürden.

 

Wir leben in schwierigen Zeiten, denn wir sind Zeugen des katastrophalen Zusammenpralls zweier großer Technologien. Der neuen Technologie nähern wir uns mit der psychologischen Konditionierung und den Reizreaktionsmustern der alten. In Phasen des Übergangs ist ein Zusammenprall unvermeidlich. In der Kunst des ausgehenden Mittelalters erkennen wir bereits die Angst vor der neuen Technologie des Buchdrucks, die im Motiv des Totentanzes ihren Ausdruck fand. Ähnliche Ängste werden heute…. zum Ausdruck gebracht. Beide stehen für einen weit verbreiteten Fehler: den Versuch, die von der neuen Umwelt geforderten Aufgaben mit dem Rüstzeug der alten zu erledigen.“

Wir sollten das Neue mutig begrüßen, denn Stillstand ist nun mal Rückschritt oder wie A.N. Whitehead sagte: „Die Aufgabe der Zukunft ist es, gefährlich zu sein.“

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine spannende Zeit.

Ihr

Ulrich B Wagner

 

Zum Autor:

Ulrich B. Wagner, Jahrgang 1967, studierte Psychologie, Soziologie und Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang von Goethe Universität in Frankfurt am Main. Er ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Kommunikation, Coaching und Managementberatung (ikcm) mit Sitz in Bad Homburg und Frankfurt am Main und gleichzeitig Dozent an der european school of design für Kommunikationstheorie sowie Werbe- und Konsumentenpsychologie.

Ulrich Wagner arbeitet als Managementberater und systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikations- und Rhetoriktrainings, Personalentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

Zu erreichen: via Website www.ikcm.de, via Mail uwagner@ikcm.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).

Kennen Sie schon die Leinwände von Inspiring Art?