„stundenbuch – Zeiten für Einkehr“: 1. Woche – Freitag

… von Ulrich B Wagner aus seinem „stundenbuch – Zeiten der Einkehr – 1. Woche – Kairos und Chronos auf der Suche nach der verlorenen Zeit„.

Nach den ersten fünf Tagen – Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag – folgt heute:

Freitag

Kairos: Schmuggler, Gaukler, Zeitenwandler

Lachen ist ein Schmuggler. Das ist wahr, aber auch ein Schmuggler muss am Ende seiner Reise seine geschmuggelte Ware an den Mann bringen, sonst ist er keiner. Ein Nikolaus, der mit zugeschnürtem Sack vorbeirauscht, interessiert bald kein Kind mehr.

(Rafik Schami – Von Schmugglern und trojanischen Pferden)

Am Morgen

Nach einer Definition von Finck kommt das Wort Schmuggeln von Schmiegen. Man schmiegt sich den Verhältnissen an. Ich finde dies eine sehr schöne Definition – auch wenn sie dem etymologisch richtigen mittelalterlichen smeugen nicht ganz entspricht – da das Anschmiegen an sich für mich alle Aspekte des Schmuggelns in sich vereint. Der Schmuggler kann sein Gut, das für ihn oder andere hinter der Grenze als bedeutsam erachtet wird, nicht offen hinübertransportieren, da dieses Gut entweder jenseits der Grenze verboten und/oder dessen Einfuhr in das andere Land aus welchem Gründen auch immer mit Einfuhrsanktionen belegt ist. Um sich Anzuschmiegen bedarf es einer sehr guten Detailkenntnis der jeweiligen Verhältnisse, aber auch eines rechten Gefühl für den Augenblick und dessen Mitspieler und Gegenspieler (Zöllner und Türwächter). Der Schmuggler muss sich nicht nur über das Risiko seines Unternehmens bewusst sein, sondern auch über die Bedeutsamkeit des zu schmuggelnden Gutes, der Hindernisse und Barrieren, aber auch der Schlupflöcher, der vermeintlich offenen Stellen innerhalb der Grenze. Hierzu muss er nicht nur seinen Verstand einsetzen, sondern auch sein Gefühl, sein gefühltes Verstehen des Anderen, der ihm den Übertritt verweigern würde. Der Schmuggler schmiegt sich den Verhältnissen an und wird für diesen Moment ein Teil des Ganzen, er bewegt sich in den Grauzonen der Legitimität, dem Schnittpunkt der Ober- und Unterwelt der Sozialität. Er ist ein Grenzgänger, ein Raumwandler und sozialer Rebell. Dies mag auf der einen Seite den Reiz des Schmuggelns erklären, da es sich hierbei immer auch um ein Sich-Einlassen auf etwas Verbotenes und Grenzwertiges darstellt und damit zum Abenteuer wird.

Gemeinhin kann man drei Arten des Schmuggelns unterscheiden: das offene Schmuggeln, das versteckte Schmuggeln und das geheime Schmuggeln. Es gibt Gruppen innerhalb jeder Gesellschaft, die wahre Profis des Schmuggelns sind, dies sind meistens Berufsreisende, also Menschen, die von Berufswegen (Vertreter, Diplomaten, Berater, Abenteurer, Artisten, Künstler und immer mehr der globalisierte Angestellte per se), aber auch Volksgruppen (Sinti und Roma, Nomaden etc.) eine Professionalität des Grenzwandelns bewusst oder unbewusst verinnerlicht haben.

Allen ist es gemein, dass sie häufig mit Grenzen in Kontakt kommen und diese überwinden müssen, um ihre Kultur oder Güter aus ihrem Kulturkreis in das vermeintlich andere „fremde“ Land mitnehmen zu können müssen sie des Öfteren auf die Tricks und Schliche des Schmuggelns zurückgreifen.

Ich möchte in unserem Zusammenhang den Begriff des Schmuggelns auf unser eigenes persönliches Leben, oder besser auf unser Innenleben ausweiten.

Viele Dinge werden im Lauf unseres Lebens durch Grenzen bedroht (durch den Übergang in das Erwachsenenalter, die Berufrolle, die sich nur schwer mit dem ganz persönlichen Gefühlswelten vereinigen lässt und vieles mehr). Selbstverständlich gibt es eine Reihe von alternativen Verhaltensweisen, um mit solchen Unvereinbarkeiten umzugehen, wie Aufgabe (Loslassen), Verneinen der Bedeutsamkeit des Schmuggelgutes oder auch Negation der Grenze per se und damit der Versuch des Ausdehnens der Zeit oder des Raums über die naturgegebenen Grenze hinaus.

In unserer Zeit beobachten wir häufig den sogenannten „Jugendwahn“ oder die kollektive Weigerung des Erwachsenwerdens.

Man versucht mit allen zur Verfügung stehenden legalen und illegalen Methoden zwanghaft den natürlichen Prozess des menschlichen Lebens auszuhebeln und aufzuhalten. Ein in dieser frühen und allumfassenden Ansatzweise für meine Ansicht nach neue radikale Art sich mit der Vergänglichkeit auseinanderzusetzen und dies bei einer allgemeinen Alterung der Gesellschaft (Methusalem-Komplott, Frank Schirrmacher).

Gerade hier böte sich jedoch das Schmuggeln gerade als optimale dritte Möglichkeit, neben der fatalistischen Resignation und dem auf lange Sicht zerstörerischen und selbstschädigenden Verneinen der Grenze an sich an.

Lesen sie hierzu ruhig einmal das alte Volksmärchen des Schmieds von Jüteborg, dem es mit seinem Witz und seiner Lebensfreude nicht nur gelingt, angesichts des Todes seine Gelassenheit und Lebenskraft zu bewahren, und der damit seine wahre Zeit über diese Grenze hinausträgt und damit den Lebenshorizont für sich selbst erweitert und öffnet.

Ein Spiel mit Tod und Teufel, das schon Sisyphos, der Vater des Odysseus, als Schelmengestalt getrieben haben soll, für das er schließlich jedoch, nachdem er es ein wenig übertrieben hatte, mit dem bekannten Stein und dem dazugehörigen Berg als lehrende Strafe bedacht wurde.

Wie auch immer, ich denke es gibt vieles in unserem Leben, dass sich als Schmuggelgut eignet und das es wert ist, von uns über bestehende oder vermeintliche Grenzen bewahrt und behütet zu werden, auch wenn die Allgemeinheit dieses verneint und sanktioniert.

Für den heutigen Tag würde ich vorschlagen, dass Sie sich mal alle Utensilien, die man für das Schmuggeln so benötigt, sich für Ihr ganz persönliches Schmuggelabenteuer zusammenstellen.

Das wären für das erste:

  • Ein Schmuggelgut (es eignet sich alles was ihnen lieb und teuer geworden ist, aber nicht so einfach in ihrem Lebensumfeld eingeführt werden darf)
  • Eine Grenze
  • Ein Zöllner
  • Ein Land, Raum, Möglichkeits- oder Zeitraum in dem sie sich an dem besagten Gut dann auch erfreuen können.

Versuchen Sie sich das Gefühl vorzustellen, das Sie angesichts der gelungenen Schmuggelaktion befällt und was das Ganze mit unserem beflügelten Freund Kairos und der Liebe zu tun haben könnte?

Am Mittag

LEGENDE VON DER ENTSTEHUNG DES BUCHES TAO TE KING
AUF DEM WEG DES LAOTSE IN DIE EMIGRATION

Als er siebzig war und war gebrechlich,
Drängte es den Lehrer doch nach Ruh’,
Denn die Weisheit war im Lande wieder einmal schwächlich
Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu.
Und er gürtete den Schuh.

Und er packte ein, was er so brauchte:
Wenig. Doch es wurde dies und das.
So die Pfeife, die er abends immer rauchte,
Und das Büchlein, das er immer las.
Weißbrot nach dem Augenmaß.

Freute sich des Tals noch einmal und vergaß es,
als er ins Gebirg den Weg einschlug.
Und sein Ochse freute sich des frischen Grases
Kauend, während er den Alten trug.
Denn dem ging es schnell genug.

Doch am vierten Tag im Felsgesteine
Hat ein Zöllner ihm den Weg verwehrt:
„Kostbarkeiten zu verzollen?” „Keine.”
Und der Knabe, der den Ochsen führte, sprach:
„Er hat gelehrt.”
Und so war auch das erklärt.

Doch der Mann in einer heitren Regung
Fragte noch: „Hat er was rausgekriegt?”
Sprach der Knabe: „Dass das weiche Wasser in Bewegung
Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt.”

Dass er nicht das letzte Tageslicht verlöre,
Trieb der Knabe nun den Ochsen an.
Und die drei verschwanden schon um eine schwarze Föhre.
Da kam plötzlich Fahrt in unsern Mann
Und er schrie: „He, du! Halt an!”

„Was ist das mit diesem Wasser, Alter?”
Hielt der Alte: „Interessiert es dich?”
Sprach dem Mann: „Ich bin nur Zollverwalter,
Doch wer wen besiegt, das interessiert auch mich.
Wenn du’s weißt, dann sprich!

Schreib mir’s auf. Diktier es diesem Kinde!
So was nimmt man doch nicht mit sich fort.
Da gibt’s doch Papier bei uns und Tinte
Und ein Nachtmahl gibt es auch: ich wohne dort.
Nun, ist das ein Wort?”

Über seine Schulter sah der Alte
Auf den Mann: Flickjoppe. Keine Schuh.
Und die Stirne eine einzige Falte.
Ach, kein Sieger trat da auf ihn zu.
Und er murmelte: „Auch du?”

Eine höfliche Bitte abzuschlagen
War der Alte, wie es schien, zu alt.
Denn er sagte laut: „Die etwas fragen,
Die verdienen Antwort.” Sprach der Knabe: „Es wird auch schon kalt.”
„Gut, ein kleiner Aufenthalt.”

Und von seinem Ochsen stieg der Weise,
Sieben Tage schrieben sie zu zweit.
Und der Zöllner brachte Essen (und er fluchte nur noch leise
Mit den Schmugglern in der ganzen Zeit).
Und dann war’s so weit.

Und dem Zöllner händigte der Knabe
Eines Morgens einundachtzig Sprüche ein
Und mit Dank für eine kleine Reisegabe
Bogen sie um jene Föhre ins Gestein.
Sagt jetzt: kann man höflicher sein?

Aber rühmen wir nicht nur den Weisen,
Dessen Name auf dem Büchlein prangt!
Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreißen.
Darum sei der Zöllner auch bedankt:
Er hat sie ihm abverlangt.

(Berthold Brecht, Akzente, Jg. 1, 1954, S. 149, Zweitausendeins, Frankfurt/M.)

Am Abend

Auch das Schmuggeln verlangt eine bestimmte Form der Geistesgegenwärtigkeit, die wir all zu gerne mit Schnelligkeit zu verwechseln trachten. Ein Phänomen, das bei zwei anderen, meines Erachtens auch sehr verwandten Situationen, ähnlich auftritt und zwar der Liebe und dem perfekten Augenblick, dem Kairos.

Alle drei Situationen besitzen ein Moment der Plötzlichkeit des Auftretens oder der abverlangten Aktion, die mit dem Erscheinen des Phänomens vertreten sind. Der Kairos, der rechte Augenblick, den es am Schopf zu packen gilt, ist schlagartig da, ein Aha-Erlebnis, ein wahrgenommener Sprung oder ein Vorbeirauschen.

Ist dies aber wirklich so? Oder erscheint es uns nur so, um uns vor der schmerzlichen Erkenntnis zu verschonen, dass wir die eigentlichen Augenblicke deshalb verpassen, nicht weil wir sie verschlafen, sondern weil wir auf Grund unserer Hyperaktivität und unseres Erzwingen Wollens dem vor uns Liegenden nicht mehr gewahr werden?

Da unser Horizont so mit der vor uns stehenden Mauer eingeschränkt ist, dass uns die offene Tür zwei Schritte nebenan aus dem Blick entweicht und wir immer wieder bis zur Erschöpfung sprichwörtlich mit dem Kopf durch die Wand wollen. Eine Distanzierung des Blicks kann hierbei Wunder bewirken.

Wir finden bei der Liebe nunmehr das gleiche Moment der Überraschung und Plötzlichkeit in unserem Zeitempfinden. Ich denke jedoch, dass dieses enorme Empfinden von Plötzlichkeit und Momenthaftigkeit seinen Grund in der Heftigkeit hat, mit der das nunmehr in Blick der Aufmerksamkeit geratene Objekt diesen begrenzten Aufmerksamkeitsraum flutet und das vorher darin befindliche verdrängt.

Was nun aber, wenn der Kairos und auch die Liebe schon die ganze Zeit vorhanden waren, wie Estragon und Wladimir in Samuel Becketts „warten auf Godot“. Und die zwei stehen sich die Füße in den Bauch, da wir gerade mit „Wichtigerem“ unsere Aufmerksamkeit auslasten? Vielleicht entwischt uns ja mancher perfekte Augenblick, da er es nun einfach Leid war, auf uns zu Warten?

Es birgt etwas Geheimnisvolles, dieses plötzliche Auftreten des so alles durchfluteten Ereignisses, es gleicht einer Epiphanie.

Hier sind wir dann auch wieder beim Schmuggeln, denn ohne das Geheimnisvolle, das Unerwartete, ist auch dieses nicht vorstellbar. Ja und es hat etwas Divenhaftiges und Zickiges. Nach dem Motto: Du hättest mir ja auch ein wenig früher ein Umfeld schaffen können, in dem deine Aufmerksamkeit mir gerecht würde.

Betrachten wir diese einzelnen Bestandteile müssen wir notgedrungen feststellen, dass es sich immer um Mangelgüter handelt, sowohl in der Liebe, als auch im Kairos und den profansten Schmuggelgütern.

Alle drei Güter sind also nicht auf Abruf verfügbar, sie sind für den Menschen unverfügbar und bekommen hierdurch den Charakter des Heiligen, des Gnadengeschenks.

Sie werden zu Befindensfetischen, zu Symbolen, die je nach quantitativen und qualitativen Verfügbarkeit für den Einzelnen mit unterschiedlichsten Gefühlen beladen sind.

Würden wir ein wenig mehr Schmuggler sein in unserem Leben, ein wenig offener und aufmerksamer gegenüber den Grenzen und Abgrenzungen, würden wir wertvolle Bestandteile hinüberschmuggeln, anstatt dass wir andauernd „verweile doch, verweile doch du bis so schön“ schreien würden, würden wir Platz für „heilige Räume“ schaffen, die abgegrenzt von der Trivialität und Profanität der Alltagswelt existieren könnten.

Wir sollten Schmuggler werden, die Lieb gewonnenes mit Sorgfalt und Dankbarkeit in geschützte Räume transportieren, in denen ihnen die ihnen angemessene Aufmerksamkeit zu teil werden kann. Wo wir sie auspacken und genießen könnten, denn was nutzt uns der voll beladene Weihnachtsmann, wenn seine Geschenke im Sack verschnürt bleiben oder im Rauschen der Welt untergehen?

Nicht alles muss auf den gleichen Tisch, nicht alles muss an Ort und Stelle ausgepackt werden und vieles bewahrt dadurch seinen Reiz, dass es ein Schmuggelgut bleibt.

Ach so, da wäre ja noch unser Jugendwahn, unser Schieben und Aufschieben des Erwachsenwerdens, dieses kollektiven Cinderella und Peter Pan Komplexes. Dieses kaugummihafte Dehnen und Ziehen bis alles reißt und spröde wird. Wie wäre es, wenn wir das Besondere und uns Bedeutsame schmiegen, an uns schmiegen würden und geeignete Plätze dafür schaffen und finden würden.

Denn ich frage Sie im Ernst: Wer möchte wirkliche seine ganze – und ich meine es Ernst – vollständige Jugend ohne wenn und Aber wieder haben? Oder nehmen sie auch die komplette Kuh mit zu sich nachhause, weil sie später in Ruhe einen schönen entspannten Latte Macchiatto auf ihrer Couch trinken wollen?

Wenn wir uns mit diesem Gefühl aus dem Jetzt entließen, nicht der Gegenwart an sich sondern dem Jetzt sofort, was passierte wohl mit uns?

In der Nacht

Selbst

Und wenn wir uns selbst
einfach entließen?

Da geht es, ohne zu grüßen,
schmollend und grübelnd
auf der Suche nach Besserem.
Es schaut sich noch nicht einmal um.

Und wir?
Wir sollen uns erst mal gewöhnen
an diese strahlende Landschaft
von früher und später,

von leuchtender Zeit
ohne Jetzt.

(Cees Nooteboom, So könnte es sein, Gedichte, Suhrkamp 2001)

Zum Autor:

Ulrich B. Wagner, Jahrgang 1967, studierte Psychologie, Soziologie und Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang von Goethe Universität in Frankfurt am Main.

Er ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Kommunikation, Coaching und Managementberatung (ikcm) mit Sitz in Bad Homburg und Frankfurt am Main und gleichzeitig Dozent an der european school of design für Kommunikationstheorie sowie Werbe- und Konsumentenpsychologie.

Ulrich Wagner arbeitet als Managementberater und systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikations- und Rhetoriktrainings, Personalentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

Zu erreichen: via Website www.ikcm.de, via Mail uwagner@ikcm.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).

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