… von Ulrich B Wagner aus seinem „stundenbuch – Zeiten der Einkehr – 1. Woche – Kairos und Chronos auf der Suche nach der verlorenen Zeit„.
Sonntag
Das Glücken der Zeit
Das Glücken eines Tages, eines Lebens
liegt nicht in der Verfügungsmacht des Menschen.
Die wahre Zeit ist kein Werk des Menschen,
sie ist ein Geschenk des Himmels.
Unverfügbar ist die wahre Zeit, da sie von sich aus kommt.
Gedanken zur Woche
Leben im Hier und Jetzt, oder über das unsichtbare Nahe.
Was ist uns die Zeit? Eine dämliche Frage zu einer der selbstverständlichsten Sache der Welt, mögen sie anmerken. Zeit hat man eben, oder nicht. Punkt
Auf so einen kommunikativen Totschläger lässt sich natürlich nichts mehr entgegnen. Oder vielleicht doch?
Was wir in der deutschen Sprache Zeit nennen, wird im Griechischen dagegen durch zwei unterschiedliche Wörter gekennzeichnet hinter deren Fassade sich zwei gegensätzliche Zeitwelten eröffnen.
Hier sind wir nunmehr auch wieder bei den Grenzen. Wie ist das Wort konnotiert, d.h. welche Bedeutungen und Eigenschaften schreibe ich einem Wort zu. Welche Bedeutungen grenzen sich aus und welche nicht. Selbstverständlich gibt es, ansonsten wäre eine menschliche Kommunikation nicht möglich eine „objektive“ Bedeutung eines Wortes, d.h. einen Konsensbereich des Symbols, innerhalb dessen ohne darüber nachzudenken Einigkeit und Übereinstimmung ohne Nachfragen blind vorausgesetzt wird. Hier sind wir bei der so häufig in der Geschichte des Lebens fatalen Zweischneidigkeit der Nibelungentreue oder des Blankoschecks, also der Konsensfiktion, die immer auch solange eine reine Fiktion bleibt, bis die eigentliche Wirklichkeitsprüfung stattfindet.
Angesichts dieser Tücken muss man sich eigentlich immer wieder mit wundern, dass wir uns überhaupt verstehen.
Wenn uns jemand wichtig oder wir ihm Aufmerksamkeit schenken, ändern wir auch meistens den Kommunikationsstil und führen vielleicht eine Konversation, ein lateinischer Begriff der von dem Verb konversere (sich biegen und drehen) abstammt. Wenn wir uns also in einer Konversation befinden, bemühen wir uns um Abgleich der Bedeutungsgehalte. Das vermeintlich Selbstverständliche wird zum besseren Verstehen des Anderen nicht nur auf seinen Wahrheitsgehalt hin überprüft, sondern die inneren Repräsentanten und Bilder des Gesagten auf Übereinstimmung oder Unterscheidungen hin abgeglichen.
Ich denke, dass wir verleitet sind – warum auch immer – zu wenig über die Art wie wir miteinander reden und versuchen uns gegenseitig zu verstehen nachzudenken. Denn Sprache ist ja nicht nur ein Medium, die vermeintlich außersprachlich real existierende Wirklichkeit zu beschreiben.
Sprache ist mehr, sie ist das Einfallstor, der Zugang zur Wirklichkeit, sie erschließt Wirklichkeit. Und die Möglichkeiten der Sprache bestimmen und/oder determinieren wesentlich den Zugang zu unseren Möglichkeitsräumen.
Wissenschaftler vermuten schon lange einen Zusammenhang zwischen der Existenz von Wörtern, den sprachlichen Zeichen unserer Wirklichkeitsbeschreibung und unserer Wahrnehmung der Welt. Dies wurde in den letzten Jahren beispielsweise sehr eindrücklich im Kontext der Farbwahrnehmung hin untersucht. So unterscheiden Eskimos in ihrer eskimo-aleutischen Sprachfamilie zwischen dutzenden Weißtönen, da sie auch mindestens genauso viele verschiedene Worte für Schnee besitzen. Sprache oder besser gesagt die Ausdifferenzierung der einzelnen Wörter kann somit als Bedeutungsmesser für die Überlebenswichtigkeit der eindeutigen Beschreibung eines Sachverhalts angesehen werden. Als gesichert gilt zumindest seit der interkulturellen Untersuchung von Kray & Hampton (1984), das zumindest bei Reizen, die sensorisch sehr schwer zu unterscheiden sind, der Name als weiteres Kriterium herangezogen wird. Die Berinmo, ein Volk aus Papaua Neu-Guinea, können deswegen kaum zwischen Grün und Blau unterscheiden, da sie für beide Farben in ihrer Sprache Dani nur ein Wort benutzen und deshalb Schwierigkeiten haben, diese auseinanderzuhalten.
Doch zurück aus diesen Überlegungen zu unserer Zeitbegrifflichkeit. Was wir in der deutschen Sprache mit dem Wort Zeit benennen, wird im Griechischen durch zwei grundverschiedene Worte bezeichnet: Kairos auf der einen, Chronos auf der anderen Seite.
In unserer entzauberten Lebenswelt ist uns das Wort Chronos wohl eher geläufig und es kommt dem zur Folge auch in einer Reihe von Lehens- und Kunstwörtern wie Chronograph, Chronometer und Chronologie vor.
Dies ist kein Zufall, sondern verweist auf ein elementares Empfinden der Wirklichkeit. Chronos meint den Lauf der Zeit, die Zeitenfolge, die Zeit gesehen als eine Gerade, auf der wir die Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart abtragen. Dies entspricht unsrem modernen, vernunftzentrierten und mechanistischem Weltbild. Man betrachtet die Zeit als einen kontinuierlichen Ablauf, als ein Kontinuum, wenigstens solange ein starres Bezugssystem herangezogen wird, wie es in der nichtrelativistischen Physik der Fall ist. Zeit wird als ein leerer Raum betrachtet, vergleichbar mit einem leeren Filofax. So wie der Filofax mit den Projekten seines Besitzers, wird der vor uns liegende Zeitraum gefüllt mit Vorhaben und Projekten des Menschen, eben mit den Dingen, mit denen er seine Zeit auszufüllen gedenkt. Die Zeit erscheint als etwas Verfügbares. Der Chronos läuft sprichwörtlich ab verrinnt. Er glückt nicht.
Ein kurzer Ausflug in die griechische Mythologie vermag unseren Gedanken und Gefühlen im weiteren ein wenig auf die Sprünge Spur zu verhelfen. Chronos wird gemeinhin als Gott der Zeit bezeichnet, dessen Person das Verrinnen der Zeit, als auch den Ablauf der Lebenszeit versinnbildlicht. Einen eigentlichen Chronos Kult im Gegensatz zum Kairos Kult gab es jedoch im antiken Griechenland nicht. Auf den ersten Eindruck befremdlicher erscheint jedoch, dass einige antike Quellen Chronos mit Kronos gleichsetzen, dem Vater des Zeus. Dabei handelt es sich um eine Volksetymologie, die beiden Götter hatten ursprünglich nämlich nichts miteinander zu tun.
Ich finde diese alten mythischen Erzählungen für unser heutiges Zeitverständnis sehr erhellend und möchte sie ihnen daher an dieser Stelle noch kurz erzählen.
Beginnen wir mit Kronos, dem jüngsten Spross des Uranos und der Gaia und einer der Titanen. Seine Mutter stachelte den jungen Kronos an, seinen Vater als Rache für die Verbannung der ungeliebten und schrecklichen Kinder, der Schwester und Brüder des Kronos, in die Tiefen der Erde zu entmachten. Was dieser auch in einer sehr drastischen und symbolhaften Weise erledigte, indem er seinen Vater mit einer Sichel kastrierte. Das abgeschnittene Glied wurde ins Meer geworfen und aus der aufsteigenden Gicht entstand schließlich Aphrodite. Dies wäre jedoch eine andere Geschichte. Aufgrund der Entmannung des Vaters erlangte Kronos jedoch schließlich die Weltherrschaft. Wie das Rad des Schicksals sich nun mal von Zeit zu Zeit drehen mag, verkündete ihm jedoch die Mutter, dass einer seiner Söhne ihn ebenfalls eines Tages gewaltsam entmachten würde. Um diesem Schicksal zu entgehen verschlang Kronos alle seine Kinder, die ihm seine Schwester Rheia gebar, direkt nach der Geburt: Hestia, Demeter, Hera, Hades und Poseidon. Nur Zeus nicht, den verbarg Rheia auf Kreta und reichte dem Vater zum herunter schlingen einen in eine Windel gewickelten Stein. Den weiteren Lauf der Geschichte kennen sie wahrscheinlich. Nachdem Zeus groß und stark geworden war, bezwang er der Prophezeiung folgend seinen Vater, der jedoch zuerst noch brav auf Geheiß seiner Mutter, die bereits erfolgreich verschlungenen Kinder wieder freizugeben hatte.
Wie oben schon hervorgehoben, führten philosophische Spekulationen in der Spätantike jedoch dazu, dass Chronos, die Personifikation der alles verzehrenden Zeit, und Kronos, der Kinderfresser zu einer Erscheinung verschmolzen. Wir sollten eigentlich gewarnt sein oder nicht?
Nun zu unserem zweiten griechischen Zeitwandler: Kairos. Dem griechischen Dichter Ion von Cios zufolge gilt Kairos als der jüngste Sohn des Göttervaters Zeus und wird in der griechischen Mythologie als der Gott der günstigen Gelegenheit und des rechten Augenblicks bezeichnet. Eine Bronzestatue des griechischen Bildhauers Lypsio aus dem 4. Jahrhundert, zeigte den Gott als jungen Mann mit Flügelschuhen, Stirnlocke und kahlem Hinterkopf: Die Gelegenheit beim Schopfe packen, besagt ein altes deutsches Sprichwort. Wer nicht aufmerksam genug ist, bekommt nichts mehr davon zu fassen. Häufig wird jedoch in unserer Alltagswelt das Wort aufmerksam mit schnell vertauscht. Was ich für einen fatalen Irrtum halte. In den biblischen Texten findet man den Kairos dahingehend auch als Bezeichnung für eine besondere Gelegenheit, einen von Gott geschenkten einzigartigen Zeitpunkt, ein mit persönlichen Chancen versehenen Gnadengeschenk.
Aber machen sie sich hierzu einmal selbst ihre Gedanken zu welchem Ergebnis sie bei ihren Überlegungen zu unserem jungen griechischen Gott je nach Verwendung des einen oder anderen Wortes kommen …
Oder lesen sie noch in der Folge das Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe „An Schwager Kronos“ zu unserem Mischwesen (Kronos und Chronos) und stellen sie sich die Frage, ob uns der gute, alte Chronos so ein guter Taktgeber für ein glückliches und ausgeglichenes Leben wirklich sein kann. Oder sind wir hier nicht vielleicht doch versucht mal wieder den Bock zum Gärtner zu machen, was die alten Griechen durch ihren Verzicht auf einen Chronos Kult auch unmissverständlich kundtaten?
Ich möchte mich dahingehend den alten Griechen anschließen und verzichte tunlichst darauf nunmehr den alten Chronos durch des Geheimrats Gedicht noch weiter zu huldigen und empfehle ihnen hingegen einen gemeinsamen Ausflug mit Rainer Maria Rilke in den Jardin du Luxembourg. Vielleicht lässt sich unser Kairos dort ja auch einmal blicken.
Entspannung
Das Karussell
Mit einem Dach und seinem Schatten dreht
sich eine kleine Weile der Bestand
von bunten Pferden, alle aus dem Land,
das lange zögert, eh es untergeht.
Zwar manche sind an Wagen angespannt,
doch alle haben Mut in ihren Mienen;
ein böser Löwe geht mit ihnen
und dann und wann ein weißer Elefant.
Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald,
nur dass er einen Sattel trägt und drüber
ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.
Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge
und hält sich mit der kleinen heißen Hand
dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge.
Und dann und wann ein weißer Elefant.
Und auf den Pferden kommen sie vorüber,
auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge
fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge
schauen sie auf, irgend wohin, herüber –
Und dann und wann ein weißer Elefant.
Und das geht hin und eilt sich, dass es endet,
und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.
Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,
ein kleines kaum begonnenes Profil -.
Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,
ein seliges, das blendet und verschwendet
an dieses atemlose blinde Spiel…
(Rainer Maria Rilke)
Zum Autor:
Ulrich B. Wagner, Jahrgang 1967, studierte Psychologie, Soziologie und Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang von Goethe Universität in Frankfurt am Main.
Er ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Kommunikation, Coaching und Managementberatung (ikcm) mit Sitz in Bad Homburg und Frankfurt am Main und gleichzeitig Dozent an der european school of design für Kommunikationstheorie sowie Werbe- und Konsumentenpsychologie.
Ulrich Wagner arbeitet als Managementberater und systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikations- und Rhetoriktrainings, Personalentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.
Zu erreichen: via Website www.ikcm.de, via Mail uwagner@ikcm.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).