„stundenbuch – Zeiten für Einkehr“: Versoehne die Bilder – Vorüberlegungen Teil 4

… von Ulrich B Wagner aus seinem „stundenbuch – Zeiten der Einkehr“.

Im 1. Teil der Vorüberlegungen hat Ulrich B Wagner über den „Aufbruch“ geschrieben, im 2. Teil über die Nutzung des Stundenbuchs und im 3. Teil über „Über die Grenzen

Im heutigen 4. Teil der Vorüberlegungen geht es um „Versoehne die Bilder„.

Oft sind uns die an einer Stelle des Lebens oder in einem Umfeld gegebenen, gerechtfertigten und gefundenen Grenzen hilfreich und erweisen sich in einem anderen Kontext als ungeeignet. Zu oft verleiten uns die durch unsere Logik und unseren Verstand gezogenen Grenzen jedoch zu einer zweigeteilten Weltsicht und führen uns so in ärgste Bedrängnis.

Tertium non datur (Ein Drittes gibt es nicht) Dieses Ausschließen einer dritten Möglichkeit in der Logik, seit Aristoteles mit einer räumlichen Analogie als das Mittlere bezeichnet, wird dahingehend auch gerne als das Prinzip des ausgeschlossenen Mittleren oder Prinzip des zwischen zwei kontradiktorischen Gegensätzen stehenden ausgeschlossenen Dritten oder Mittleren genannt. Ein für die Logik notwendiges Prinzip, das sich jedoch auf das menschliche Leben in seiner Komplexität und Mannigfaltigkeit als ungeeignet erweist. In einer statischen, räumlichen und zeitlichen Begrenzung, einer sauberen wissenschaftlichen Laborwelt mögen solche Ableitungen sinnhaft sein, doch sobald ich diese Konstanten aufhebe, werden diese Annahmen zur Fessel und führen zwangsläufig zu Irrtümern und Konflikten. Menschliches Leben, der einzelne Mensch als auch das soziale Miteinander sind jedoch ambivalent organisiert, sie müssen naturgegeben stets gegensätzliche Strebungen ausgleichen und miteinander versöhnen. Wo kein Platz für ein Sowohl-Als- auch ist und niemals Jain als Antwort gegeben werden kann, entsteht Verrücktheit. Man wird sprichwörtlich verrückt aus seiner gefühlten Mitte, seinem Gleichgewicht aus unterschiedlichen Gefühlen und Regungen, die das bisherige Einssein mit sich und der Welt ermöglichte.

Dieses obige Aussöhnen oder Versöhnen der Widersprüche ist ein Grundbedürfnis der menschlichen Psyche und macht unser Verstehen, als auch das Verstehen des Anderen oder der Welt erst möglich. Im Verstehen, wie ich es hier in Abgrenzung zum Erklären gebrauche, ist eine psychologische Dimension enthalten, die aus der Konsensfiktion, der stillschweigenden Annahme der Gleichartigkeit zwischen dem, der versteht, und dem der verstanden wird, resultiert. Ein Urgefühl des Einsseins, des Urvertrauens in die Zusammenhänge wird hier sichtbar.

Da die Welt durch Symbole geordnet und beschrieben wird, ist die Welt oder der andere immer auch durch die Offenheit und Vielfalt der zur Verwendung bestehenden Symbole begrenzt. Auf unser menschliches Leben und verstehen bezogen, scheint dies in den meisten Fällen jedoch ziemlich unbemerkt von der Hand zu gehen. Als Mensch weiß ich aus der Innenperspektive wie Menschen funktionieren; ich kenne zwar nicht alle, aber immerhin einen und zwar mich. Ich setze also immer zwangsläufig voraus, dass die anderen ähnlich denken oder fühlen wie ich. Denn wer verstehen will, muss zumindest gedanklich in der Lage sein, sich in die Rolle des anderen zu versetzen, sie in sich als Blaupause abzubilden, bedeutet Phantasie zu haben, sich zu identifizieren, um die Gefühle nachzuvollziehen. Mit allen damit verbundenen Abweichungsfehlern und Unbekanten, die immer wieder in einem fortlaufenden Prozess der Veränderung des Aus- und Eingrenzens modifiziert werden müssen. Ich schaue nach innen, um gleichfalls etwas über das Innere des Anderen zu erfahren. Ich schaue mich in dem Anderen und trotz aller Andersartigkeiten und Besonderheiten erkenne ich einfühlend den anderen. Wichtig ist hierbei vor allem, dass ich den Handlungen und Gefühlen einen Sinn und eine Bedeutung zuschreiben kann. Der Konsens darüber welcher Sinn welcher Handlung oder Regung zugeschrieben wird, ist dabei die Voraussetzung des Verstehens.

Im gesellschaftlichem und Kontext scheint dies selbstverständlich und wurde von Kant wie folgt beschrieben: «nicht bloß Unordnung und Abweichung von der der Regel des Gebrauchs von der Vernunft, sondern auch positive Unvernunft, das ist eine andere Regel, ein ganz verschiedener Standpunkt, worein, so zu sagen die Seele versetzt wird, und aus dem sie alle Gegenstände anders sieht, und aus dem sensorio communi, das zur Einheit des Lebens (des Mensches) erfordert wird, sich in einem davon entfernten Platz versetzt findet (daher das Wort Verrückung).» Was aber, wenn in meinem Inneren mehr Widersprechendes als Einssein fühlbar und erlebbar ist? Hier droht es nicht nur fragwürdig, sondern bedrohlich fragil zu werden.

In diesen Zeiten verliere ich das selbstverständlich geglaubte Gefühl zu mir selbst, und drohe schlimmstenfalls in Fragmente zu zersplittern, die kaleidoskopisch in unterschiedlichsten Kontexten, ohne übergeordneten Zusammenhang, nun fast beliebig zusammengefügt werden könnten. Es wird uns schwer fallen und der Veränderungsnotwendigkeit des Lebens abträglich erscheinen, und in gewissen Kontexten auch wiederum verrückt erscheinen sich ständig und ohne Unterlass eins zu fühlen. Nichts zum Trotz ist unser Leben von diesem Ziel geleitet und dieses fühlende Wissen des Einsseins bildet uns den übergeordneten Sinnzusammenhang unseres Seins. So ist unser Leben immer auch Herausforderung und Gelassenheit zugleich, um der Linie des Lebens in seinen Kurven anmutig zu folgen und nicht abrupt die Richtung zu ändern. Natura non facit saltus. Die Natur liebt keine Sprünge und so ist es hilfreich von Zeit zu Zeit Innezuhalten, nach Innen zu blicken und seiner Seele zu lauschen und sich mit sich zu versöhnen, um gelassen und frei Veränderungen zu erfahren und zu gestalten. Ich hoffe, Ihnen mit diesem Stundenbuch diese Plätze des Innehaltens und Einsseins erfahrbar zu machen, und möchte ihnen als Geleitwort die mir mit der Zeit meines Findens und Wiederfindens sehr lieb gewordene ZEN Geschichte mit auf den Weg geben, die uns auf unseren Weg immer wieder Kraft und Hoffnung zum Weitergehen zu schenken vermag.

Eine Zen-Schülerin fragte ihren Lehrer: «Meister, was ist Mitgefühl? Und wie unterscheidet es sich von Mitleid und Barmherzigkeit?» Der Meister antwortete: «wer Mitleid oder Barmherzigkeit empfindet, der spürt noch einen Unterschied zwischen sich selbst und anderen. Bei wirklichem Mitgefühl ist diese Schranke aufgehoben, und man empfindet Mitgefühl als Einssein.» «Wie kann ich das üben?», fragte die Schülerin. «Das lässt sich nicht üben, denn dazu muss man erst die Einheit aller Dinge erkennen», sagte der Meister. «Bis dahin kann man aber Barmherzigkeit üben.»

Eine Überlegung und Lebensweisheit, die mir auch bei Stifter begegnete, als ich seine Erzählungen angeregt durch einen Essay in Peter Handkes Aufzeichnungen wieder zur Hand nahm. In «Einige Bemerkungen zu Stifter» beschreibt Handke, den aus unterschiedlichsten Gründen in der heutigen Literaturwelt fast vergessenen Stifter als einen Menschen, dem es nicht darum geht, «eine gewisse Weise des Weltanblickens zu kritisieren, als einen neuen Blick auf die Welt zu gestalten, einen dritten Weg, außerhalb der Vernunft und der ekstatischen Tänze der Unvernunft, an der Hand des Erzählens (oder des Rechenschaftgebens) der Erst-Dinge, welche, nach Stifter, das sanfte Gesetz der Menschheit angeben.» Meine Intention des Stundenbuchs folgt dieser Tradition des dritten Weges und möchten ihnen dahingehend nicht Ratgeber und Lehrmeister sein, sondern ihnen helfen ihren Blick auf ihre Seele und ihr Leben neu zu gestalten, um ihnen so das Finden und Wiederfinden «des sanften Gesetzes» zu ermöglichen.

So endet der erste Teil auch mit einem Auszug aus Adalbert Stifters Erzählung «Der sanftmütige Obrist» nicht nur aus dem oben stehenden Grund, sondern vielleicht auch als Aufforderung und Anleitung zum Aufschreiben ihrer neu gefundenen oder wiedergefundenen Überlegungen, Erkenntnisse und Gefühle am Ende eines Tages mit dem Stundenbuch.

Ihr Ulrich B Wagner

Zum Autor:

Ulrich B. Wagner, Jahrgang 1967, studierte Psychologie, Soziologie und Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang von Goethe Universität in Frankfurt am Main.

Er ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Kommunikation, Coaching und Managementberatung (ikcm) mit Sitz in Bad Homburg und Frankfurt am Main und gleichzeitig Dozent an der european school of design für Kommunikationstheorie sowie Werbe- und Konsumentenpsychologie.

Ulrich Wagner arbeitet als Managementberater und systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikations- und Rhetoriktrainings, Personalentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

Zu erreichen: via Website www.ikcm.de, via Mail uwagner@ikcm.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).

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