… aus der wöchentlichen Business-Kolumne von Ulrich B Wagner „Me, myself and I – eine Reise in sich hinein und über sich hinaus“.
Heute: Über vorwärts gerichtetes Erinnern und innere Landschaften …
Unterwegs mit Peter Handke – ein Geburtstagsgruß
Eine waldige Vorstadtgegend. Ein Jahrzehnt dort. Dann das Jahr. Sieben ferne Freunde. Eine verschwundene Frau. Wer? Wer nicht? Wo? Wo nicht? Der Bahnhofsplatz mit dem Baum, worin die Vögel schlafen. Die Bar der Reisenden. Die Jahreszeiten. Die Pilze. Die Wanderarbeiter. Die Nachbarn. Die Grillen. Kriege, Vulkanausbruch, heiße Quellen. Ein Steinmetz aus dem Mittelalter. Ein kleinlicher Prophet. Das Kind namens Vladimir. Die Fabel vom Lärmmacher, der gesteinigt wird von den Ureinwohnern. Die blaue russische Kirche am Waldrand. Und dann das Wiedersehensfest mit den Freunden in einer Winterrauhnacht kurz vor dem neuen Jahr.
Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht, Ein Märchen aus den neuen Zeiten
Was ist das eigentlich, ein Tag, der „geglückt“ genannt werden kann? Muss dieser Tag vollkommen sein oder genügt vielleicht schon ein geglückter Augenblick?
Peter Handke, Der Versuch über den geglückten Tag
Ich glaube es war Jorge Louis Borghes, der Anfang der siebziger Jahre im Rahmen seiner legendären Harvard – Vorlesungen unter dem Titel „Das Handwerk des Dichters“ davon sprach, dass die wahre Freude, das wahre Erkennen nicht beim Lesen, sondern beim Wiederlesen auftritt. Ein Phänomen, dass mir selbst immer wieder aufs Neue begegnet, wenn ich aus einem anfänglich meist mehr unbewussten Moment heraus ein Buch von Peter Handke aus der Regelwand greife.
Noch eine Kolumne, noch ein Kommentar zu Handke, werden Sie jetzt vielleicht aufstöhnen, angesichts der vielfältigen Rezensionen angesichts seines 70ten Geburtstags am morgigen 06. Dezember 2012 und des vor kurzem erschienenen Briefwechsels mit seinem langjährigen Verlegerfreunds Siegfried Unseld.
Sei’s drum, es ist mir ein persönliches Anliegen und ………Nein keine Entschuldigung, kein vorträgliches oder nachträgliches rechtfertigen.
Es ist was es ist, oder vielleicht doch nicht? Nicht doch die ganze Wahrheit?
Geht es überhaupt um Wahrheit und falls ja um welche Wahrheit? Wie treffe ich sie, wo an welchem Ort? Oder trifft sie am Ende gar mich? Und wenn ja? Wo? An welchem Ort, welchem Kontext, Umständen und Zusammenhängen? Nur einmal und dann nie wieder? Wenn doch häufiger? Was hat sie in der Zwischenzeit gemacht? Mit sich selbst? Mit uns, mit unserem Leben, Wahrnehmen, Fühlen und Erkennen?
Vielleicht ist es ja das, was es mit dem Wiederlesen auf sich? Eine Selbstverortung während des Lesens, im Wiedererkennen, im vorwärts gerichteten Prozess des Sich-Erinnerns, einer wie auch immer gearteten Epiphanie des Alltäglichen?
Lesen ist immer auch Bewegung, ein, wenn es gelingt sich bewegen lassen, weniger ein bloßes Anrühren, sondern ein Anstupsen, im Sinne eines ins Rollen-Bringens. Handkes Ideal des Schreibens ist wie er es in seinem „Märchen“ „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ seinem Protagonisten in den Mund legt daher auch der Sache nach, idealerweise „ein mitvibrierendes Dahinerzählen“. Dieses vom Erzähler empfundene Mitvibrieren mit seiner Umwelt überträgt sich, oder besser gesprochen klingt im Inneren des Lesers nach, um das schöne Bild des Nachklingens bei Handke aufzugreifen, um sich bei ihm, dem Leser, im doppelten Sinne fortzuschreiben.
Dies ist wohl auch der verführerische Moment in Handkes Erzählkunst ab den 80er Jahren, lange nach seiner Erzählung „Das Endes des Flanierens“, dass sie den eigenen Schritt des Lesenden zu verändern in der Lage ist. Nicht hin zu einem ermüdeten Schlürfen wie so manche Kritiker lapidar behaupten, sondern zu einem „aufrichtigem“ Flanieren, einem sich selbst und dem jeweiligen Augenblick bewussten Dahinflanierens durch innere Landschaften, einer Entschleunigung und einer damit verbundenen Entfernung, eines Rückzugs aus der vita activa, um dann an anderer Stelle neu aufzutauchen, sich wiederzufinden oder sich auch aufs Neue wieder zu erfinden. Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, so wie die in alle Welt verstreuten Freunde in Handkes Erzählung. Sie verlieren sich zwar, verlaufen sich jedoch nicht. Es sind daher immer auch die vermeintlichen Umwege die bei Handke das Ziel beschreiben, die so genannten Schlangenlinien des Leben. Das Mäandrieren von Sein und Zeit. Es kommt daher auch nicht von ungefähr, dass das Bild „Der Maler und sein Mops“ von William Hogarth, das Handke in der Londoner Tate Gallery betrachtet und dabei einen krummen Strich entdeckt, den man – wäre er nicht beschriftet – angesichts der abgründigen Mopsaugen und der verloren ins Bild hängenden Mopszunge leicht übersehen würde. „The Line of Beauty and Grace“, die Linie der Schönheit und der Anmut, ist unter dem Strich auf der umgedrehten Palette zu lesen und dessen Schwingung bringt nicht nur die Eingangssequenz des „Versuch über den geglückten Tag“ zum Klingen bringt, sondern wird auch den Leser zeitlebens berühren.
Es ist dieses Zulassen, der auf den ersten Blick unnötigen Umwege, die letztendlich erst ein Erkennen möglich machen.
So sind Handkes Erzählungen nicht nur Märchen, Tagträume, sondern insbesondere auch oder „nur“ Reiseführer in innere Landschaften, ihre vergessenen Spuren, Zeichen, Richtungsgeber, die manchmal einzig im vorwärts gerichteten Prozess des Erinnerns sich zu erhellenden Optionen und leuchtenden Möglichkeitsräumen aufschwingen.
Handkes heutiges Schreiben, das sich Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts entwickelte, kann, nein muss daher auch wie sein Frühwerk als Protest verstanden werden. Als Protest gegenüber einer Umwelt, deren Götzen Schnelligkeit, Lautheit und Verbohrtheit heißen, und der sich dieser einzigartige Autor immer, wieder und wieder Bleistift nach Bleistift spitzend, furchtlos entgegenstellt.
Peter Handke an dieser Stelle alles Gute zum Geburtstag.
Uns allen eine besinnliche Adventszeit, und vor allem auch genügend Mut zu Stunden des inneren Dahinflanierens, des sich Wiederfindens und Neuerfindens gegen und entgegen aller Wirrnisse der Umwelt
Ich verziehe mich an den Ort, an den auch der Kaiser zu Fuß ging und erfreue mich an Peter Handkes „Versuch über den stillen Ort“.
Herzlichst
Ihr Ulrich B Wagner
Ulrich B. Wagner, Jahrgang 1967, studierte Psychologie, Soziologie und Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang von Goethe Universität in Frankfurt am Main. Er ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Kommunikation, Coaching und Managementberatung (ikcm) mit Sitz in Bad Homburg und Frankfurt am Main und gleichzeitig Dozent an der european school of design für Kommunikationstheorie sowie Werbe- und Konsumentenpsychologie. Ulrich Wagner arbeitet als Managementberater und systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikations- und Rhetoriktrainings, Personalentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare. Zu erreichen: via Website www.ikcm.de, via Mail uwagner@ikcm.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).