Über die Klasse, die glaubt, immer alles im Griff zu haben

Für eine gewisse gewissenlose Klasse von Technikern, Ingenieuren und Wissenschaftlern ist Machbarkeit ein Gott, ein Götzengott. So ist sie getrimmt, so ist sie konditioniert und indoktriniert. Diese Leute definieren sich als Angehörige einer Elite, und so denken und handeln sie auch. Alles glauben sie  im Griff zu haben, zu kontrollieren. Die ganze Natur, denken sie, liegt ihnen zu Füßen, beherrschbar. Sie bedenken nicht Anfang und Ende, nicht das Wissen der anderen. Gastkommentar von Wolfgang Hingst

 

Diese Leute bemühen ständig den Begriff „Spitzentechnologie“, betreiben Schnelle Brüter und Wiederaufbereitungsanlagen, in denen tonnenweise mit dem giftigsten Stoff der Welt hantiert wird, Plutonium, das – Paracelsus konnte es noch nicht wissen – in jeder Dosis schädlich ist. Plutonium (Pu-239) hat eine physikalische Halbwertzeit von mehr als 24.000 Jahren. Würde das Plutonium in den Brennstäben von Fukushima in die Umwelt gelangen, wäre eine weltweite hochgradige Verseuchung die Folge. Eine halbe Ewigkeit lang.

 

Diese Leute konstruieren und bauen Raketen und ABC-Waffen, Drohnen und Wasserstoffbomben, Urangeschosse und Streubomben. Sie beliefern die Militärs mit Atom- und Wasserstoffbomben bis zum „Overkill“. Sie bohren in der Tiefsee nach Erdöl. Umweltkatastrophen wie im Golf von Mexiko kalkulieren sie ein, abgebucht unter Restrisiko. Sie fühlen sich erhaben über die Welt und von den Gottsöbersten auserwählt, gedeckt, beflügelt. Der Machbarkeitswahn ist nahe angesiedelt beim Größenwahn.

 

Zwischen 600.000 und einer Million „Liquidatoren“ wurden vor 25 Jahren, als Tschernobyl in die Luft flog, für die Aufräumungsarbeiten im „Havarie“-Reaktor verheizt, vor allem junge Menschen. Die meisten sind schon tot oder leiden an Spätfolgen wie Krebs. Die Menschen weit über die Ukraine und Weißrussland hinaus leiden heute noch an Krebs, Missbildungen, Erbschäden. Auch jetzt noch sind die Lebensmittel verseucht.

 

Ein zweiter „Sarkophag“, eine dicke Betonhülle um den Reaktor, muss gebaut werden, weil die Strahlung nach wie vor alles ruiniert. Mehr als 3.000 Arbeiter müssen täglich die anderen Reaktorblöcke, die seit 1986 heruntergefahren sind, warten und bewachen. Kinder müssen auch heute noch ins Ausland verschickt werden, um ihnen wenigstens kurze Zeit eine Erholung von der Radioaktivität zu gönnen. Aber die Machthaber in Russland lassen neue Atommeiler bauen.

 

Die Technokraten sind Handlanger ihnen verwandter Bürokraten in den Schaltzentralen der Macht, gewisser Bosse in weltweit operierenden Konzernen wie Tepco, Betreiber der Fukushima-Reaktoren. Tepco, einer der größten Energiekonzerne der Welt, 52.000 Mitarbeiter, hat die Öffentlichkeit mehrfach belogen und Unfälle vertuscht. Verantwortung? Fehlanzeige. Das Risiko in Dimensionen wie Tschernobyl oder Fukushima ist nicht versicherbar, weil die Summen ins Astronomische gehen? Im Ernstfall blecht der Steuerzahler, der Bürger, das Lieblingsopfer.

 

Was wird die Atomlobby in Orwellscher Verdrehung der Wahrheit nach Fukushima sagen? Wir brauchen Atomenergie. Sie ist sauber und schützt das Klima. Ihre vielen Pferdefüsse wird sie unterm Tisch behalten: Die Kühlsysteme können nicht nur durch Erdbeben und Tsunamis ausfallen, sondern auch durch menschliches Versagen, Flugzeugabstürze, Stromausfall, Sabotage, Terrorangriffe. Und: Die Probleme der Endlagerung des hochradioaktiven Mülls sind nicht lösbar. Und: Die „friedliche Nutzung“ der Atomenergie ist aufs engste verzahnt mit der militärischen.

 

Von der Atomlobby hört man schon jetzt – während in Fukushima die Kernschmelze fortschreitet: Die Welt braucht Atomstrom, sonst gehen die Lichter aus. Die uralte Lüge wird wieder aufgekocht. Wie beim Erdöl heißt es: unverzichtbar. Die Ökonomie verlange es, die internationale Wettbewerbsfähigkeit, der Alltag, die Strompreise, die Arbeitsplätze, die Wirtschaft. Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung? Belanglos. Moral? Was ist das? Menschlichkeit, Mitgefühl? Nie gehört. Verantwortung? Ein Begriff von Vorgestern. Kritik? Wird als Panikmache denunziert. Erneuerbare Energie? Sie sei, so wird gelogen, nicht ausreichend, zu teuer.

 

Die Wahrheit ist: Der Ausstieg aus der Atomenergie ist machbar, ebenso wie der Ausstieg aus den anderen nicht erneuerbaren Energiequellen Erdöl, Erdgas und Kohle. Nicht von heute auf morgen, aber zügig. Wir haben keine andere Wahl, denn sogar vorsichtige Prognosen für die erste Hälfte dieses Jahrhunderts gehen davon aus, dass die Ölförderung deutlich schrumpft und die Preise in Schwindel erregende Höhen steigen.

 

Auch die Uran-Reserven gehen zur Neige, weshalb schon jetzt auf Plutoniumtechnologie gesetzt wird – mit allen unabsehbaren Konsequenzen. Wenn nicht rechtzeitig gehandelt wird, kommt es zu einem totalen Chaos. Nichts geht dann mehr. Die gesamte Wirtschaft bricht zusammen und damit die Versorgung mit allem, was lebenswichtig ist. Wenn dieses Szenario eintritt, liegen unsere Überlebenschancen nach dem Zukunftsforscher Rolf Kreibich vom IZT Berlin nur noch bei 10%.

 

Wenn Atom- und Erdölzeitalter zu Ende gehen, bleibt als einziger Ausweg die Sonnenergie, zu der auch Windenergie und alle Energieformen auf der Basis nachwachsender Rohstoffe sowie die Wasserkraft gehören. Noch haben wir (aber nicht mehr lange) eine Überlebenschance, wenn wir die Volkswirtschaften ab sofort Schritt für Schritt auf erneuerbare Energie und nachwachsende Rohstoffe umstellen.

 

Die Sonne liefert 15.000mal mehr Energie auf die Erde als die Weltbevölkerung derzeit konsumiert. Anders gesagt: Binnen drei Stunden erreicht uns die gleiche Menge Energie, die pro Jahr weltweit verbraucht wird.

 

Sonne, Wind und Wasser

 

Diesen Drei gehört die Zukunft. Dazu kommen, um nur einige Beispiel zu nennen: solare Wasserstofftechnik, optimierte Brennstoffzellen, der Einsatz von Algen zur Energiegewinnung und die Nutzung geothermischer Energie. Zusammen mit ausgeklügeltem Energiesparen kann die Energiewende spielend geschafft werden, das zeigen zahlreiche seriöse Studien. Voraussetzung ist freilich, dass die finanziellen Mittel nur noch für Erneuerbare Energie eingesetzt werden. Euratom ade!

 

Die Erneuerbaren sind so gut wie schadstofffrei und daher auch eine Rettung für das Weltklima, ein Jobknüller obendrein: Bis 2020 könnten allein in der EU durch Erneuerbare Energieträger 900.000 Arbeitsplätze zusätzlich geschaffen werden.

 

Zwei Beispiele zeigen, dass trotz Gegenwind die Solarenergie nicht aufzuhalten ist. Gerade das durch Fukushima geschockte Japan beherrscht auf dem Sektor Solarzellen den Weltmarkt.

 

Allein 2002 wurden Solarstromanlagen mit einer Leistung von 140 Megawatt installiert. Das Volumen des Solarmarktes liegt schon jetzt bei mehr als zwei Milliarden Euro. In keinem anderen Land der Welt wird mehr Strom aus Wind produziert als in Deutschland. Bei der Photovoltaik liegt das Land auf Platz zwei. Deutschland ist in Europa mit Abstand der größte Solarthermie-Markt. Der Umsatz der Branche erreicht rund zehn Milliarden Euro.

 

Nach dem Bundesverband Erneuerbare Energie können vor allem regenerative Kombikraftwerke bis 2020 die Hälfte der deutschen Stromversorgung sichern. Wie Deutschland ohne Atomkraft die Versorgungssicherheit gewährleisten kann, haben zuletzt die aktuelle Leitstudie des Bundesumweltministeriums und zuvor das Gutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen gezeigt.

 

Im Spannungsfeld zwischen Machbarkeitswahn und Vernunft muss sich die Menschheit endlich für den Weg der Vernunft entscheiden. Sonst ist ihr Schicksal besiegelt.

 

Quelle: © Franz Alt 2011

Wolfgang Hingst 2011

Geboren 1938 in Wien. Historiker und Journalist. Jahrzehntelang Redakteur, Filmemacher und Dokumentarist im ORF. Konrad-Lorenz-Preis. Buchautor, Essayist. Unter anderem zahlreiche Publikationen zu den Themen Radioaktivität und Erneuerbare Energie.

Erstveröffentlichung in "Die Presse" 25.03.2011

 

 

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