Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein haben in Zusammenarbeit mit der Universität zu London erstmals zeigen können, wie erworbene Veränderungen der Erbsubstanz zu chronischen Entzündungen des Darmes führen. Diese überraschenden Erkenntnisse, die an eineiigen Zwillingen gewonnen wurden, zeigen erstmals, dass Einflüsse der Umwelt auf das Erbgut wirken und so nachgeschaltete Funktionen im Darm langfristig Krankheiten auslösen können. Die Ergebnisse dieser Studie wurden jetzt in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Genome Research veröffentlicht.
Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa) stellen eine Gruppe unheilbarer Erkrankungen des Darmes dar, deren Auftreten in westlichen Industrienationen in den letzten 50 Jahren sprunghaft angestiegen ist. Die Krankheit trifft vor allem jüngere Menschen zwischen dem 15. und 35. Lebensjahr und führt zu schweren Durchfällen, Schmerzen und langfristigen Komplikationen wie Darmkrebs. Obwohl eine große Anzahl von Krankheitsgenen in den letzten Jahren entdeckt wurde, ist weiter völlig unklar, warum die Krankheit zu einem bestimmten Zeitpunkt bei den einzelnen Patientinnen und Patienten ausbricht. Es ist lediglich bekannt, dass Umweltfaktoren wie Ernährung und Lebensstil den Ausbruch der Erkrankung beeinflussen. In anderen Zusammenhängen ist gezeigt worden, dass diese Umweltfaktoren molekulare Abdrücke, sogenannte epigenetische Modifikationen an bestimmten Buchstaben des Erbgutes, der DNA, hinterlassen können.
Das Institut für Klinische Molekularbiologie (IKMB) hat jetzt zusammen mit der Klinik für Innere Medizin I erstmals einen solchen epigenetischen Fingerabdruck im Erbgut von Personen mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen identifiziert, welcher eine Erklärung für den Ausbruch der Krankheit liefern könnte. In Kooperation mit der Arbeitsgruppe von Professor Stephan Beck von der Universität in London haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Methylierungsmuster der Erbsubstanz im Darm von eineiigen Zwillingspaaren untersucht, von denen lediglich ein Zwilling erkrankt war. Durch den Vergleich dieser chemischen Veränderung der sonst identischen DNA konnte erstmals ein komplexes Programm von epigenetischen Veränderungen beschrieben werden. Die Zwillingspaare wurden im Rahmen einer Studie seit 10 Jahren durch Professor Andreas Raedler und Dr. Martina Spehlmann von der Klinik für Innere Medizin I rekrutiert und betreut. Da epigenetische Modifikationen Gene an- oder abschalten können, wurde gleichzeitig die Genaktivität untersucht, um die funktionellen Konsequenzen dieser molekularen Fingerabdrücke für die Darmschleimhaut zu ermitteln.
„Die Studie zeigt erstmals an einer entzündlichen Krankheit die Erbsubstanz des befallenen Organs als eine Art Tagebuch unserer Lebensgeschichte und gibt Aufschluss, welche Gene beim Ausbruch der Erkrankung langfristig an- und ausgeschaltet werden. Ziel ist es jetzt, in diese Programmierung gezielt einzugreifen, um den Verlauf der Erkrankung zu verändern“ sagt Professor Philip Rosenstiel, Direktor am IKMB.
„Interessant ist, dass diese molekularen Abdrücke unabhängig von den bisherigen Risikogenen agieren. Welche einzelne Umweltfaktoren die krankheitsrelevanten epigenetischen Modifikationen verursachen, ist mit dem aktuellen Stand der Forschung nicht zu beantworten, aber es zeigt sich, wie dynamisch unser Erbgut beeinflusst wird“, so Dr. Robert Häsler, Plattformleiter am IKMB.
„Der hier entschlüsselte funktionelle Code der Erkrankung gibt erstmals einen Hinweis, warum jemand zu einer bestimmten Zeit krank wird und welche Programme in der Schleimhaut dann nicht mehr funktionieren“, so Professor Stefan Schreiber, Direktor der Klinik für Innere Medizin I und Dekan der Medizinischen Fakultät. „Es muss jetzt geklärt werden, inwieweit sich solche Muster eignen, auch dem eigentlichen Ausbruch der Erkrankung Krankheiten vorherzusagen und zu beeinflussen.“
Publikation:
“A functional methylome map of ulcerative colitis” Häsler R, Feng Z, Bäckdahl L, Spehlmann ME, Franke A, Teschendorff A, Rakyan VK, Down TA, Wilson GA, Feber A, Beck S, Schreiber S, Rosenstiel P. Genome Res. 2012 doi:10.1101/gr.138347.112
Quelle: Oliver Grieve, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein