Die Schale mit Süßigkeiten im Büro sieht verführerisch aus. Wie gerne würde man zugreifen, aber eigentlich war das Ziel in diesem Sommer ja die „Bikini-Figur“. Allerdings sagen Verhaltensforscher, dass Zugreifen für unser moralisches Handeln besser sein könnte als der Versuchung nach Süßem zu widerstehen.
Wenn eine Stunde mehr auf dem Stundenzettel vermerkt wird, als eigentlich für den Kunden gearbeitet wurde, wenn die Mittagspause länger ausgedehnt wird, ohne die Zeit nachzuarbeiten oder wenn Kugelschreiber und anderes Büromaterial mit nach Hause genommen werden, kann das unterschiedliche Gründe haben. Dies kann mit mangelnder Kontrolle im Unternehmen, schlechter Erziehung, falsch verstandener individueller Nutzenmaximierung oder einer schlechten Unternehmenskultur zusammenhängen. Ein psychologischer Faktor kann aber eben auch die Selbstkontrolle sein.
Selbstdisziplin befähigt uns, Reizen zu widerstehen und das längerfristige Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Allerdings handelt es sich dabei wohl um eine begrenzte kognitive Ressource. Das heißt, wenn zwei selbstkontrollintensive Situationen schnell aufeinanderfolgen, könnte für die zweite Situation nicht mehr genügend Selbstkontrolle übrig sein. In Experimenten führte dies dazu, dass Probanden, die kurz vorher Selbstkontrolle für ein bestimmtes Verhalten zeigen mussten, in der nachfolgenden Situation deutlich weniger selbstkontrolliert waren und zum Beispiel mehr aßen oder beim Shopping deutlich mehr kauften als die Kontrollgruppe.
Um kurzfristig verlockendem unmoralischem Verhalten widerstehen zu können, wird ebenfalls Selbstkontrolle benötigt. Sind nun die Selbstkontrollressourcen aufgrund einer vorangegangenen selbstkontrollintensiven Situation erschöpft, fällt die nachfolgende Entscheidung unethischer aus als im unerschöpften Kontrollzustand. Kurz gesagt: Erschöpfung der Selbstkontrollressource erhöht unethisches Verhalten. Studien der Verhaltensforscher Gino, Ariely und Co. unterstützen diese Annahme. In Experimenten wurden einige der Probanden aufgefordert, bestimmten Reizen keine Aufmerksamkeit zu schenken, wofür sie eine entsprechende Selbstkontrolle aufbringen mussten. Die Probanden, denen diese Anweisung beim Betrachten der Bilder nicht gegeben wurde, verhielten sich im darauf folgenden Tests sehr viel moralischer als die Gruppe, die sich zuvor schon sehr beherrschen mussten.
Um sich moralisch einwandfrei zu verhalten, ist nicht nur Selbstkontrolle nötig, sondern auch die Fähigkeit, ethische Fragestellungen zu erkennen. Dieses moralische Bewusstsein ist jedoch auf die gleiche kognitive Ressource angewiesen wie die Fähigkeit, Selbstkontrolle auszuüben. Die Forscher konnten die Hypothese bestätigen, dass die Erschöpfung der Selbstkontrollkapazität gleichzeitig auch das moralische Bewusstsein beeinträchtigt.
Ist ein Mitarbeiter nun häufig einer selbstkontrollintensiven Situation ausgesetzt, fehlt ihm dann nicht nur die notwendige Selbstkontrolle, sondern auch die Fähigkeit, ein moralisches Dilemma überhaupt zu erkennen. Daher ist es empfehlenswert, ethisch relevante Entscheidungen nicht direkt nach selbstkontrollintensiven Situationen wie Meetings, Verhandlungen oder Dienstreisen zu fällen. Noch besser wäre eine allgemeine Reduzierung selbstkontrollintensiver Situationen. Herrscht im Unternehmen beispielsweise eine gute Kommunikationsatmosphäre, in der Mitarbeiter ehrlich ihre Meinung äußern können, müssen sie weniger Selbstkontrolle aufbringen, damit ihnen nicht der „Geduldsfaden reißt“. Auch ein nicht zu enger Zeitplan und Arbeiten ohne häufige Unterbrechungen entlasten die Selbstkontrollressourcen, da nicht immer erneut die Selbstkontrolle gefragt ist, wieder mit der Arbeit zu beginnen.
Statt also mit einer Süßigkeitenschale zu versuchen, das Klima im Büro zu verbessern, sollte das Unternehmen lieber auf eine Vertrauenskultur setzen und den Mitarbeitern möglichst wenige Anreize und Möglichkeiten zum Täuschen und Betrügen geben. Schließlich macht Gelegenheit Diebe, weshalb Mitarbeiter gar nicht erst in Versuchung geführt werden sollten – womit auch immer.
(Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft Köln)