Stille(nde) Herkunft in der Heimatlosigkeit: Über die Wiederentdeckung des Familiären

Was ist Heimat, und was ist Heimatlosigkeit? Das Familiäre geht über Grenzen hinaus, die selbst einem steten Wandel unterworfen sind. Diese Gedanken sind der Ausgangspunkt für den heutigen Beitrag in „QUERGEDACHT & QUERGEWORTET — Das Wort zum Freitag“ unseres Kolumnisten Ulrich B Wagner. Darin geht es um mehr als den Versuch, Generationen zu definieren, sondern auch um die Wirkungsweise, wie das Familiäre bei uns bleibt und in uns (weiter)wirkt.

Wie unsere Herkunft weiterwirkt, selbst in Heimatlosigkeit

„Nur auf dem Feld der Erinnerung kann man noch expandieren, reicher werden und zunehmen“, schreibt Botho Strauß in seinem neuen Buch Herkunft.

Erklärt dieser Satz in gewisser Form vielleicht die Rückgriffe, die Rückfälle in längst Vergangenes und überwunden Geglaubtes? Dieses weltweite Revival verklärter Vergangenheitsbilder, Traditionen und Geschichtsbilder?

Ganz am Anfang dieses Buches in der Schilderung des Vaters, seiner Form, seiner Grenzziehungen, Stringenz und von strenger Regelhaftigkeit inszenierter Körperlichkeit, eine gefühlte Annäherung an das, was uns Alle, bei aller Differenziertheit und vermeintlicher Fremdheit, einer Fremdheit, die dem geraden Blick und dem Reden übereinander statt eines Miteinanders geschuldet ist, und auch die Brennstoffe der derzeitigen Konfliktherde bildet, vereint: eine Sehnsucht nach einem Zuhause, das sowohl in der Herkunft, aber auch in Zukunft eine Heimat findet:

Die Behausung und die bergenden Zeremonien, sie sind für den einzelnen zuweilen das, was die Institutionen für die Gemeinschaft bedeuten; diese Regeln, die man durchaus nicht als solche ansehen mag, da sie offenkundig die Selbsterhaltungskräfte stärken.

In der Auflösung bleibt die Konstanz

Beziehungsstrukturen, Gemeinschaften, die Ehe, die gemeinschaftlichen Konstruktionen des Zusammenlebens und des Miteinanders befinden sich seit Langem in Auflösung, in fortwährender Veränderung und doch auch in einem fort in stille(r)nder Wiederkunft.

Alles verändert sich und bleibt sich doch am Ende des Tages wie durch Zauberhand treu.

Grenzen lösen sich auf, doch die von allen Seiten als bedrohlich dargestellte Grenzen-und Regellosigkeit des Neuen ist mehr der menschlichen Angst vor Veränderung und den mit ihnen einhergehenden Verharrungskräften geschuldet. Veränderungen, die sich bereits Ende der 80er und in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts deutlich abzeichneten und denen mein damaliger Professor Karl-Otto Hondrich, auch in Abgrenzung zu dem damals sehr populären Soziologen Ulrich Beck, sehr viel Raum in seiner Forschung und Überlegungen einräumte.

Die Grenzen des Neuen Menschen

Am eindrucksvollsten kommt dies, auch unter den derzeitigen Umständen als brandaktuell zu bezeichnenden, Rezension des Essays Der Neue Mensch und seine Grenzen von Karl-Otto Hondrich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13.10.2001 zur Geltung:

In seinem Essay kritisiert der Soziologe Karl Otto HONDRICH die Vorstellungen vom individualisierten, flexiblen Menschen als neue Utopien, die alte Großutopien abgelöst hätten. Der Angriff auf Amerika (9/11 Terroranschläge auf die Türme des WorldTradeCenters) zwingt dagegen zurBesinnung auf seine eigene Kollektivität“. SF-Phantasien der „Dritten Kultur“ gehen noch weiter, wenn sie den Neuen Menschen als einen von Leib und Lebenszeit (Klone à la Houellebecq oder Cyborgs) befreiten Menschen denken.

Für Karl-Otto Hondrich war vollkommene Flexibilität weder willkommen, noch möglich. Auch ein Ende der Arbeitsgesellschaft vermag er nirgends zu erkennen. Hondrich forderte dagegen eine Neuorientierung der Soziologie – weg von unwichtig gewordenen Fragen der Herrschaft oder Klasse – hin zur Erforschung der Differenzen zwischen Kulturen, denn in der globalen Welt, in der sie aufeinanderstoßen, gewinnen die Unterschiede zwischen Kulturen eine besondere Sprengkraft.

Doch auch dies allein bezeichnete er damals schon als nicht ausreichend, denn die übergreifende Gemeinsamkeit aller Menschen verortete er nicht (bloß) in den Menschenrechten begründet, sondern in den sozialen Beziehungsgesetzen:

„Das sind Prozesse und Gesetzmäßigkeiten des Zusammenlebens, denen sich niemand entziehen kann: Das Gesetz der Gegenseitigkeit (‚Wie du mir, so ich dir‘), das Gesetz der Präferenz für das Eigene, das Gesetz der Unantastbarkeit des Heiligsten (‚Tabu‘)…“. 

Aktuelle Konfliktdimensionen sprengen Grenzen

Betrachtet man unter diesem Brennglas die derzeitigen internationalen, gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Umbrüche, so muss man Karl-Otto Hondrichs Definition des in allem schwelenden Generationenkonflikts, der unter den fundamentalen und fulminanten Veränderungen, die mit dem Internet verbunden werden, noch dramatischere Formen anzunehmen scheint, noch dramatischere Formen annimmt als noch in früheren Zeiten, insbesondere mit dem heutigen Blick betrachtet, als noch richtungsweisender betrachten.

Gemeinsames Überschreiten der Grenzen

Hondrich definiert Generationen als familiäre und nicht als politische Größe. Eine Wiederentdeckung des Familiären, die in sich nicht nur eine Neudefinition des Begriffs der Familie auf der Grundlage des MiteinanderRedens und MiteinanderAushandelns anklingen lässt, sondern trotz und entgegen einer immer größer werdender Individualisierung und Ausdifferenzierung, erst ein sinn- und haltstiftendes übergreifendes Wir meines Erachtens ermöglicht:

Zwischen den Generationen ist nicht Gerechtigkeit das Regulativ, sondern Liebe.

Vielleicht ist es das, was die Frage nach der Stillenden Herkunft in Zeiten der gefühlten Heimatlosigkeit so drängend und schmerzhaft macht.

Wer weiß?

Es in sich Nachklingen zu lassen kann meines Erachtens auf keinem Fall schaden.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein entspanntes Wochenende im und mit den Menschen Ihres WIR.

Ihr Ulrich B Wagner

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