Die Inflation der Mittelschicht – und die unterschiedlichen Definitionen der Mittelschicht

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Immer neue Studien verwirren die Öffentlichkeit mit alarmistischen Aussagen über die Mittelschicht. Doch schon der Begriff führt in die Irre.

Gastbeitrag von Gert G. Wagner, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, in der Süddeutschen Zeitung vom 19.12.2012

In der vergangenen Woche haben drei Studien wieder einmal zur Verwirrung der Öffentlichkeit beigetragen. Alle drei beschäftigen sich mit der viel zitierten „Mittelschicht“ und beruhen auf den Daten des vom DIW Berlin erhobenen Sozioökonomischen Panels (SOEP). Die Studien kommen – zumindest in den Schlagzeilen – zu unterschiedlichen Ergebnissen. Einmal schrumpft die Mittelschicht (Bertelsmann Stiftung), zweimal bleibt sie mehr oder weniger unverändert (IW Köln und Konrad-Adenauer-Stiftung). Die Erklärung ist ganz einfach: Es wird mit unterschiedlichen Definitionen der sogenannten Mittelschicht gearbeitet.
Im Fall der Bertelsmann Stiftung gibt es sogar zwei Mitten: die soziologische Mitte und die Einkommens-Mitte! Die einzig sinnvolle Schlussfolgerung, die ich aus dieser Diskussion ziehen kann, ist: Vergesst die Trendentwicklung der (Einkommens-) Mittelschicht und lasst  uns konkrete Lebenslagen in den Bereichen Bildung, Arbeit und verfügbare Einkommen anschauen.

Im Übrigen gibt die Bertelsmann-Studie einen guten Überblick über den schillernden Mittelschichts-Begriff. So werden gerne sozialstrukturelle Merkmale sowie Statuspositionen herangezogen: mittlerer Schulabschluss, Ausübung eines qualifizierten Angestellten- oder Arbeiterberufs oder ein mittleres Einkommen. Andere Ansätze gehen von bürgerlichen Werten, Leistungsorientierung, Lebensweisen oder sozialen und kulturellen Präferenzen aus. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler kommt zum Schluss, dass die Mitte eine große Gruppe ist, in der es „kein einheitliches Ethos mit entsprechenden Werten und Normen mehr gibt, sondern materialistische und postmaterialistische, pflichtorientierte und hedonistische Grundeinstellungen nebeneinander existieren“.

Die Einkommensmitte

In der Bertelsmann-Studie spielt die Einkommensmitte eine große Rolle. Das ist aber eine sehr abstrakte Konstruktion. Dieser Mitte werden „bedarfsgewichtete“ Haushaltsnettoeinkommen zugeordnet, die zwischen 70 und 150 Prozent des Durchschnittseinkommens liegen. Dass man mit dem Anderthalbfachen des Durchschnittseinkommens – etwa als doppelverdienendes Studienrats-Ehepaar–bereits zur sozialen Oberschicht gehört, die Macht und Einfluss hat, ist lebensweltlich völlig unplausibel, und vor allem auch innerhalb der Wissenschaft keine unwidersprochene Konvention. Aber auch wenn man diese Abgrenzung akzeptiert, muss man sich um die Mittelschicht keine großen Sorgen machen. Nach der Jahrtausendwende hat die Einkommensungleichheit fraglos zugenommen, aber seit etwa 2005 ist das Ausmaß an Ungleichheit nicht mehr gewachsen, übrigens auch nicht am unteren Rand im Bereich der Einkommensarmut. Von einem besorgniserregenden Schrumpfen der Mittelschicht zu reden, ist auch vordiesem Hintergrund nicht angebracht. Das kann man in der Bertelsmann-Studie auch im Detail nachlesen.

Die soziologische Mitte

Die Bertelsmann-Studie definiert auch eine „soziologische Mitte“ mit Hilfe von drei Merkmalen. Dann kommt man zu einem völlig anderen Ergebnis als auf Basis der „Einkommensmitte“. Und dieses Ergebnis mag angesichts der Schlagzeilen über die angeblich schrumpfende Mitte überraschen. Zählt man jemanden zur Mitte, wenn er gleichzeitig in der Mitte der Verteilungen von Ausbildung, Beruf und Einkommen liegt, dann schrumpft die Mitte in Deutschland keineswegs. Zur Mitte gehören nach dieser Abgrenzung mehr als 60 Prozent der Bevölkerung. Bis zum Jahr 1997 lässt sich ein leicht steigender Anteil der soziologischen Mitte ausmachen. Und im letzten Jahr der Auswertung, 2010, lag der Anteil der Mitte bei gut 62 Prozent – ebenso hoch wie zu Beginn des Untersuchungszeitraums 1984. Also kein Wachstum der Mitte – aber ist das ausbleibende Wachstum wirklich eine krisenhafte Entwicklung? Auf jeden Fall aus Sicht der Pressestelle der Bertelsmann-Stiftung, aber weniger in der Studie der Autorengruppe. Es ist sicherlich richtig, dass es in den letzten zehn Jahren in realer Sicht keinen nennenswerten Anstieg der Löhne und Gehälter gab. Aber das ist nun wahrlich kein Mittelschichtsproblem, sondern ein Problem der kollektiven Lohnverhandlungen. Auch ist die wirtschaftliche Unsicherheit im letzten Jahrzehnt sicher gewachsen – aber das war schon in vielen Jahrzehnten so. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass im Jahr 2008/09 eine tiefe wirtschaftliche Rezession die ökonomische Lage bestimmt hat, hätte man doch eigentlich erwarten müssen, dass dies Polarisierungstendenzen in der Gesellschaft befördert; das Gegenteil war der Fall.

Die Gruppe der privilegierten Menschen in Deutschland, die ein stark überdurchschnittliches Einkommen haben und sich über mehrere Jahre hinweg keine Sorgen um ihre wirtschaftliche Situation machen, ist übrigens winzig: Sie liegt seit Jahren bei einem bis zwei Prozent der Erwachsenen. Und im europäischen Vergleich ist die Größe der deutschen Mittelschicht – egal wie man misst – überdurchschnittlich groß.

Festgehalten sei: Die Autoren der Bertelsmann- Studie stellen sich explizit die Frage, inwiefern es im Licht ihres mehrdimensionalen Mitte-Begriffs (auf Basis von Ausbildung, Beruf und Einkommen) „um die Jahrtausendwende zu einer Trendumkehr von einem lang anhaltenden Expansionskurs der Mitte zu einer Schrumpfungsphase kam?“ Ihre Antwort lautet: „Diese Frage muss zum jetzigen Zeitpunkt offen bleiben.“ Die Antwort ist auch gar nicht so wichtig: es kommt auf die konkreten Lebenslagen der Menschen an und nicht auf einen Begriff wie Mittelschicht, der schlicht und einfach ziemlich inhaltsleer ist.

Gert G. Wagner ist Vorstandsvorsitzender des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin sowie Lehrstuhlinhaber für Empirische Wirtschaftsforschung und Wirtschaftspolitik an der Technischen Universität Berlin.

(DIW Berlin 2012)

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