… aus der wöchentlichen Business-Kolumne von Ulrich B Wagner mit dem Titel „Me, myself and I – eine Reise in sich hinein und über sich hinaus„.
Heute: Durchhalten um jeden Preis?
über Sturheit, Verbohrtheit und andere Wahrnehmungsverzerrungen.
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
(Rainer Maria Rilke, Der Panther, im Jardin des Plantes Paris, 06.11.1902)
Wo genau verläuft die Grenze zwischen Uneinsichtigkeit, Verbohrtheit und Durchhaltevermögen? Wann ist es an der Zeit aufzuhören? Wann sollte man besser aufgeben, als immer und immer wieder mit demselben Kopf gegen dieselbe Wand zu rennen?
Unsere Welt ist voll von Durchhalteparolen. Fast mag man glauben, wir lebten in einer regelrechten Insistenzkultur.
So erscheint es auch nur folgerichtig, dass sich in unserem Wortschatz auch eine große Zahl von Wörtern für diese Fähigkeit finden lässt: beibehalten, aufrechterhalten, aushalten, beharren, dabei bleiben, festbleiben, dabeibleiben, dranbleiben, nicht aufgeben, erhalten, halten, tapfer sein, bestehen lassen, bleiben, festhalten an, bestehen auf, nicht ablassen, nicht lockerlassen, nicht nachgeben, pochen auf, stehen zu, verharren, dringen auf, durchstehen, nicht wanken, sich widersetzen, überdauern, überleben, abwarten, aushalten, durchhalten, nicht aufgeben, nicht schlappmachen, standhalten, verweilen, warten, dableiben, seinen Mann stehen, die Ohren steif halten, aussitzen, ausharren…
Von klein auf lernen wir, in den meisten Fällen bestimmt auch mit Recht, nicht sofort das Handtuch zu werfen bei den geringsten Widerständen und Rückschlägen. Aus gegebenem Anlass (Sie wissen schon: Nur nicht aufgeben, Christian) habe ich mich gefragt, wer uns eigentlich lehrt, wann genau der Zeitpunkt gekommen ist, dass man seinen Standpunkt oder sein bisheriges Verhalten aufgeben sollte, den Blick ändern und die Dinge mit anderen Augen und einem helleren Geist zu betrachten? Wann werden Durchhalteparolen und das niemals aufgeben Gerede eigentlich zur Farce und zu selbst- und fremd- zerstörerischem Verhalten?
Merken wir in solchen Momenten wirklich noch selbst, wann es an der Zeit ist, vom toten Gaul abzusteigen, oder verblenden falsche Durchhalteparolen und die soziale Angst davor, als Versager und Schwächling zu gelten, komplett unseren Verstand, und berauben uns so echter Zukunfts- und Lebenschancen?
Je aussichtsloser die Situationen auf den ersten Blick erscheinen mögen, desto schneller wird in der Regel auch zu Durchhalteparolen gegriffen. Dies gilt sowohl in der Politik, als auch in der Wirtschaft, im Sport oder auch in vielen Ehen.
Nun, Durchhalteparolen könn(t)en doch durchaus etwas Gutes an sich haben, denkt sich der vermeintliche Akteur. Sie könn(t)en den Adressaten vielleicht ein wenig Vertrauen vermitteln. Irgendwann jedoch werden diese Durchhalteparolen zu einem Bumerang, nämlich dann, wenn die Akteure schließlich zu glauben beginnen, was sie erzählen.
Gepaart mit dem Krisenreflex des Zurückgreifens auf Altbewährtes, entwickeln Durchhalteparolen in der Regel dann auch eine besondere Eigendynamik des Kontraproduktiven und des Zerstörerischen.
Das Aufkommen einer oder mehrerer der von mir oben angeführten Phrasen ist für mich daher auch einer der ersten gefährlichen Krisenindikatoren, die auf Verunsicherung, Ratlosigkeit und/oder Unvermögen verweisen. Sie entspringen dem Reflex des Pickens im Übersprung (ein Fachbegriff, den Conrad Lorenz in der Instinkttheorie und später Nikolaas Tinbergen in die Ethologie einführte. Dem Konzept der Übersprungbewegungen lag die Annahme zugrunde, dass zwei einander entgegengesetzte Instinkthandlungen, zum Beispiel Angriff und Flucht, sich wechselseitig hemmen und die für beide freigesetzte „Triebenergie“ in dieser Situation auf eine dritte Verhaltensweise überspringt, so dass diese dritte Verhaltensweise ausgeführt werde) in Folge fehlender Lösungsansätze und mangelnder zielführender Problemlösungskompetenz. Durchhalteparolen, geistiges Verharren bzw. Kreativitätsblockaden bedingen sich daher wechselseitig. Einer konstruktiven Lösung oder Verbesserung stehen sie somit auf jeden Fall im Wege.
Im Boxsport wirft, wenn nichts mehr geht, meist ein Verantwortlicher aus der Ringecke das Handtuch ins Getümmel und verhindert damit in der Regel Schlimmeres. Leider fehlt uns im wahren Leben häufig diese Instanz.
Meist haben sich die Akteure im Verlauf der Krise soweit selbst isoliert, dass sie nur noch von ihrer eigenen Meinung und ihrer eigenen Sicht der Dinge umgeben sind. Der neutrale Dritte fehlt oder wird aktiv vermieden, da er der dem eigenen Ego im Wege steht. Alleingelassen, isoliert und aufgerieben, in den meisten Fällen schon irgendwo zwischen Manie und Depression angekommen, gleichen sie dem Panther aus dem Jardin des Plantes in Paris. Sie schleichen an ihren aus ihren eigenen Durchhalteparolen konstruierten Gitterstäben entlang, um bei gegebenem Anlass final dem Abgrund entgegen zu rauschen.
In diesem Sinne brauchen wir weniger Seminare, Vorträge und Ratschläge zum Thema Niemals Aufgeben! oder ähnlichem Motivationsdreck des Durchhaltens um jeden Preis, sondern mehr Sensibilität für die Situation, mehr Mut zum Blick über den Tellerrand, mehr Andersdenkende in unserem Umfeld, die uns andere Möglichkeiten aufzeigen können und uns so aus unserer Denkroutine befreien. Vor allem aber auch mehr Anerkennung für diejenigen, die wirklich zugeben können, dass sie gerade keine Lösung und keine Antworten finden anstatt durch irrationale Durchhalteparolen das letzte Fünkchen Vertrauen zu verspielen.
Dies gilt für Griechenland, für unsere derzeitige Politik, Unternehmen, Ehen, Freundschaften und irgendwie wahrscheinlich ein wenig für jeden von uns.
Scheitern kann jeder einmal. Aufgeben auch. Oder, wie Konrad Adenauer einmal zu besten gab: Fallen ist weder gefährlich noch eine Schande. Liegenbleiben dagegen beides.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen die Einsicht, die Größe und den Mut anzuerkennen, wann es besser ist aufzuhören und an anderer Stelle neu zu beginnen.
Herzlichst
Ihr Ulrich B Wagner
Zum Autor:
Ulrich B. Wagner, Jahrgang 1967, studierte Psychologie, Soziologie und Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang von Goethe Universität in Frankfurt am Main.
Er ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Kommunikation, Coaching und Managementberatung (ikcm) mit Sitz in Bad Homburg und Frankfurt am Main und gleichzeitig Dozent an der european school of design für Kommunikationstheorie sowie Werbe- und Konsumentenpsychologie.
Ulrich Wagner arbeitet als Managementberater und systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikations- und Rhetoriktrainings, Personalentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.
Zu erreichen: via Website www.ikcm.de, via Mail uwagner@ikcm.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).