Kommentar von Dr. Ferdinand Fichtner, Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), anlässlich des Karlsruher Urteils zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Der Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder.
Mit ihrem grünen Licht für den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) haben die Karlsruher Verfassungsrichter für Jubel an den Finanzmärkten und in der Politik gesorgt. Das Urteil mache den Weg frei für die weitere europäische Integration und lege den Grundstein für eine stabilere Währungsunion.
Mag sein. Tatsächlich wären die letzten zwei Jahre ohne den temporären Rettungsschirm EFSF wohl noch turbulenter abgelaufen. Zwar war es von vornherein aussichtslos, die griechische Regierung als einen lediglich temporär in Zahlungsschwierigkeiten geratenen Gläubiger darzustellen. Der Schuldenschnitt, der Anfang dieses Jahres schließlich doch noch kam, war unvermeidlich; und weitere werden folgen. Aber mit dem Rettungsschirm konnte eine Ansteckung anderer Länder weitgehend vermieden werden: Die Situation in Portugal und Irland scheint stabilisiert, auch in Spanien ist zuletzt wieder etwas Ruhe eingekehrt, obwohl die spanische Regierung noch keinen Antrag auf Unterstützung gestellt hat. Allein die Ankündigung sorgt schon für Beruhigung.
Klar ist aber auch: Die Rettungsschirme sind nur eine zeitlich begrenzte Lösung für Zahlungsschwierigkeiten der Krisenländer, wie sie sich zum Beispiel aus den zurzeit sehr hohen Zinsen ergeben können. Dauerhafte Finanzierungsprobleme dürfen hingegen nicht über diesen zur Stabilisierung der Finanzmärkte geschaffenen Ausgleichstopf gelöst werden, sonst darf man sich über den Unmut der Steuerzahler nicht wundern. Gleichzeitig muss aber auch klar gesagt werden, dass die Probleme der Krisenländer nicht ausschließlich temporär sind. Die Länder stehen vor einem massiven Strukturwandel: Wirtschaftsbereiche, in die bis zur Krise große Summen ausländischen Kapitals geflossen sind, sind plötzlich von der Geldzufuhr abgeschnitten und müssen abgebaut werden – vom Staatssektor in Griechenland bis zum Immobiliensektor in Spanien. Der Anpassungsprozess in den Krisenländern wird in den kommenden fünf bis zehn Jahren mit niedrigen Wachstumsraten und hoher Arbeitslosigkeit einhergehen. Anderes zu behaupten wäre Augenwischerei.
Möglicherweise war es überhaupt der größte Fehler der Politik in den letzten Jahren, die Krise als Problem darzustellen, das innerhalb kurzer Zeit bewältigt werden kann. Es wäre ehrlicher und wahrscheinlich mit Blick auf die Unterstützung durch die Bevölkerung auch besser, wenn die Politik endlich zugeben würde, dass mit der Krise lange Anpassungsprozesse in der gesamten Währungsunion verbunden sein werden. Denn auch wir hier in Deutschland müssen uns mit der Situation in den Krisenländern auseinandersetzen: In welchem Maße sind wir zum Beispiel bereit, den Anpassungsprozess zu erleichtern – sei es durch beratende oder gar finanzielle Unterstützung? Man muss zumindest anfangen, darüber zu diskutieren. Die Entscheidung liegt dann bei den Wählerinnen und Wählern.
Das Bundesverfassungsgericht hat erneut betont, nicht über die ökonomische Sinnhaftigkeit des ESM entschieden zu haben, sondern ausschließlich über die Vereinbarkeit des ESM-Vertrags mit dem Grundgesetz. Die auf einer breiten Mehrheit beruhende politische Entscheidung des Bundestags wurde hingegen nicht in Frage gestellt. Zu Recht: Wer mit politischen Entscheidungen nicht einverstanden ist, hat in Karlsruhe nichts zu suchen. Er muss andere Parteien wählen!
Diese Gelegenheit hatten letzte Woche die Niederländer: Entgegen früheren Erwartungen haben sie bei der Parlamentswahl den Euro-Skeptikern eine Absage erteilt. Rechte und linke Radikale, die mit Stimmungsmache gegen Brüssel und Luftbuchungen in Fantasiehaushalten auf Stimmenfang gegangen sind, konnten sich nicht durchsetzen. Die Wählerinnen und Wähler in den Niederlanden haben offenbar verstanden, dass es keine einfachen Lösungen gegen die Krise gibt. Ein gutes Signal nicht nur im Namen des Volkes, sondern direkt vom niederländischen Volk, das Hoffnung macht für die anstehenden Herausforderungen.