Die privaten Vermögen in Deutschland sind zunehmend ungleich verteilt. Das unterstreicht, nach verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen, auch der Entwurf für den neuen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung.
Die Einkommen haben sich ebenfalls stark auseinander entwickelt. Das ist nicht nur ein Gerechtigkeitsproblem, zeigt eine aktuelle Untersuchung: Die zunehmende Ungleichheit in Deutschland und anderen Staaten hat die Finanz- und Wirtschaftskrise mit verursacht, die bis heute nachwirkt. Zu diesem Ergebnis kommen Dr. Till van Treeck vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung und Simon Sturn von der University of Massachusetts in Amherst.
In einem Punkt sind sich alle einig: Deutschland war in den vergangenen zehn Jahren zu einseitig auf seine Exporterfolge fokussiert, stellen Internationaler Währungsfonds, OECD, EU-Kommission und Internationale Arbeitsorganisation (ILO) unisono in aktuellen Analysen fest. Die Krise im Euroraum zeige die Negativwirkungen dieser Strategie auf – und nötige Alternativen: Eine stärkere Binnennachfrage in der Bundesrepublik würde dabei helfen, in Europa und der Welt die Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen zu verringern – und wäre damit ein wichtiger Beitrag zur Überwindung der Krise.
Dafür müsste Deutschland eines seiner Kernprobleme angehen: die rasant gewachsene Einkommensungleichheit, betonen van Treeck und Sturn. Die beiden Ökonomen haben im Rahmen eines Forschungsprojektes der ILO die Effekte zunehmender Ungleichheit in verschiedenen Ländern analysiert, darunter auch in Deutschland. Sie werteten dazu eine Vielzahl wissenschaftlicher Quellen aus.
Bislang konzentriere sich die Diskussion über Ungleichheit als eine der Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise vor allem auf die Vereinigten Staaten und die Schwellenländer, allen voran China, erläutern Sturn und van Treeck. Doch zu den Kernproblemen der Eurozone, deren Krise von der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise ausgelöst wurde, zähle auch die wachsende Ungleichheit der Einkommen im größten Mitgliedsland Deutschland.
Seit der Jahrtausendwende sind die Löhne deutscher Arbeitnehmer kaum gestiegen, die Schere zwischen großen und kleinen Einkommen hat sich immer weiter geöffnet. Zwischen 2001 und 2007 sank die Lohnquote gemessen am Bruttoinlandsprodukt um mehr als fünf Prozentpunkte. In den Jahren 1999 bis 2009 wuchs das verfügbare Einkommen des reichsten Zehntels um 16,6 Prozent, das des ärmsten Zehntels schrumpfte um 9,6 Prozent (siehe auch die Infografik im Böckler Impuls 13/2012; Link unten).
Dabei war Deutschland laut Daten der Bundesbank bereits zum Start der Währungsunion 1999 in hohem Maße wettbewerbsfähig, so die Forscher. Aufgrund der im europäischen Vergleich weit unterdurchschnittlichen Lohnentwicklung konnte die deutsche Wirtschaft diesen Vorteil immer weiter ausbauen. Hingegen dämpften die schwache Reallohnentwicklung und die zunehmende Einkommensungleichheit die Binnennachfrage.
Als wesentlichen Faktor identifizieren van Treeck und Sturn dabei die Hartz-Reformen, die den Arbeitsmarkt flexibler machen sollten. Sie haben hierzulande das Wachstum des Niedriglohnsektors weiter angetrieben. Bis in die Mittelschicht breiteten sich ein Gefühl der Unsicherheit und die Angst vor Jobverlust aus. Auch in den USA nahm die Einkommensungleichheit zu. Dort häuften viele Bürger immer höhere Schulden an – zum Beispiel, um sich trotz niedriger Einkommen ein Eigenheim leisten zu können. Damit stützte der private Konsum zwar die wirtschaftliche Entwicklung. Doch das Leistungsbilanzdefizit wuchs, die Hauskreditblase platzte – die Finanz- und Wirtschaftskrise nahm ihren Lauf.
Die Deutschen hingegen verschuldeten sich nicht, um trotz stagnierender Einkommen ihren Lebensstandard zu halten. Im Gegenteil: Sie sparten einen größeren Teil ihres Einkommens. Diese typisch deutsche Reaktion ist auch dem typisch deutschen institutionellen Rahmen geschuldet, stellen die beiden Wissenschaftler fest:
– Deutsche Arbeitnehmer arbeiten vielfach in hoch spezialisierten Industriezweigen und verfügen über betriebsspezifisches Wissen. Beschäftigungsverhältnisse sind stabiler als in den USA. Wenn Arbeitsmarktreformen Entlassungen erleichtern und zugleich die Ungleichheit steigt, befürchten Arbeitnehmer, dass sie im Falle eines Jobverlusts aufgrund ihrer Spezialisierung nur schwer anderweitig unterkommen und Einkommensverluste hinnehmen müssen. Die Konsequenz: Sie sparen.
– Weitere Reformen des Sozialstaats, wie die Teilprivatisierung der Altersrente, ließen die Beschäftigten ebenfalls mehr Geld auf die hohe Kante legen.
– Erschwerend kommen die relativ niedrige Erwerbsbeteiligung von Frauen und der sehr große Lohnabstand zu den Männern hinzu: Die starke Ausbreitung von Minijobs gerade bei verheirateten Frauen bedeutet auch, dass diese vor allem über ihren Ehemann sozial abgesichert sind. Zugleich macht das Steuersystem es für sie finanziell unattraktiv, mehr zu arbeiten. In dieser Konstellation wäre ein Jobverlust des Mannes umso dramatischer – was die Deutschen in Reaktion auf die steigende Ungleichheit und die Deregulierung des Arbeitsmarkts noch mehr sparen ließ.
All diese Faktoren ließen die Binnennachfrage nicht mehr wachsen, macht die Analyse der Wissenschaftler deutlich. Seit der Jahrtausendwende speiste sich das deutsche Wirtschaftswachstum allein aus dem Export. Starker Export, schwache Inlandsnachfrage und hohe Sparquote verursachten einen dauerhaft hohen Leistungsbilanzüberschuss. Deutschland lebte damit auch von der Überschussnachfrage der europäischen Nachbarn. Diese speiste sich wiederum aus Kreditblasen, die im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise platzten.
In Deutschland sollten Reformen deshalb darauf abzielen, die Einkommensungleichheit wieder zu reduzieren, empfehlen van Treeck und Sturn. Wichtig seien Lohnabschlüsse, die den Verteilungsspielraum ausnutzen, wie in jüngster Zeit geschehen. Die Politik könne dies unterstützen, indem sie die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifabschlüssen erleichtert, die Arbeitsmarktreformen um einen gesetzlichen Mindestlohn ergänzt und die Leiharbeit eindämmt. Damit ließen sich die schwache Konsumnachfrage und die starke Abhängigkeit der Wirtschaft vom Export überwinden – zum Wohle ganz Europas.
Drei Infografiken zum Download im Böckler Impuls:
http://www.boeckler.de/hbs_showpicture.htm?id=40853&chunk=1
http://www.boeckler.de/hbs_showpicture.htm?id=40854&chunk=2
http://www.boeckler.de/cps/rde/xchg/hbs/hs.xsl/hbs_showpicture.htm?id=40854&chunk=3
Weitere Informationen:
www.boeckler.de
Till van Treeck, Simon Sturn: Income inequality as a cause of the Great Recession? A survey of current debates, International Labour Office, Genf, 16. August 2012.