120 Worte zur Weihnachtszeit

Was hat Pier Pasolini’s Skandalfilm „Die 120 Tage von Sodom“ mit Weihnachten zu tun? Auf den ersten Blick: gar nichts. Kolumnist Ulrich B Wagner jedoch sieht im Vermächtnis des italienischen Regisseurs weitaus mehr. Was genau, das beschreibt er seinem aktuellen Beitrag zu „QUERGEDACHT & QUERGEWORTET — Das Wort zum Freitag“.

Inhaltsverzeichnis

Die liberale Illiberalität ist unerforschter als der Typ des unbeweglichen Konservativen;
vor allem im Gebiet, auf das sich die Entrüstung über das Obszöne bezieht.
Jene großzügigen Verständigen, die einen halben Schritt vorwärts machten,
wurden auch dort als Helden des Fortschritts gefeiert, wo sie nicht fortschritten.

Ludwig Marcuse, Obszön

Es weihnachtet

Nicht erst seit dem vergangenen 1. Advent.
Seit wann dann?
Seit dem im Stall zu Bethlehem ein Ross entsprungen?

Vielleicht nicht mal das: die Niederkunft?
Nur deren Wiederkunft?
Wer weiß?

Manche Dinge kommen,
wohl bekomms,
dann doch so lange,
bis sie im Zentrum des Allgemeinen angekommen und
sich als untrennbarer Bestandteil ihrer selbst
mit ihnen in sich verbunden haben.

Mit Pier Pasolini’s Skandalfilm 120 Tage von Sodom (Kurzlink zum Video mit Altersbeschränkung: is.gd/eM6zuI), der mir in Form Stefan Volks Artikel „Brechreiz bundesweit“ – wie von Geisterhand geführt aus dem Nichts des Körperlosen – entgegensprang, ist es wohl ebenso.*

Die ewige Wiederkehr des Selbigen,
des letzten, vorletzten, vorvorletzten Unausgesprochenen,
des Unausprechlichen, des nicht auszusprechen gewagten.

Sie haben verdeckt, würde ich gerne mit Marcuse fortfahren, doch sind Sie nicht gerade auch, oder besser gerade nur dieses alleinige Sie in Wahrheit Wir?

Wir, die wir, würden wir,
trauten wir uns nur der Realität ins Angesicht zu sehen,
erkennen müssten, dass alles nur unserer Haltung in diesen Zeiten geschuldet ist,
die nicht mehr unter den Ideal des Vergangenen, ganzen Teilen der Vergangenheit,
der Vergangenheit steht …
und dennoch nicht von ihr freikommen (s.a. Marcuse, S. 23).

Bemühungen rund um den öffentlichen Anstand

Foto von einem dunklen Wald mit der roten Aufschrift 120
Pasolinis Skandalfilm „Die 120 Tage von Sodom“ lehrt uns auch einiges über unser Verhalten in der Weihnachtszeit. (Foto: © Jörg Simon / 2016)

Pasolinis geheimer Kult-/ Skandal-/ Obzönitätsfilm, der bis zum heutigen Tag nicht im deutschen öffentlichen und privaten (!) Fernsehen gezeigt werden darf, erscheint da, wie der berühmte Stachel im entzündeten Fleisch, im dem seit langem unter Firnis, Staub und als selbstverständlich geglaubter Selbstherrschlichkeit, sedierten Gesellschaftskörper.

Und dies bereits seit 40 Jahren, was die heftige Zensurdebatte des Jahres 1976, in der seit den 68er Befreiungen angeblich so libertären, offenen und modernen Gesellschaft der 70er Jahre in Deutschland zeigt.

In Italien, erfolgten die Kino- und Fernseh-Verbote bereits früher. Fast punktgenau zur Grablegung des ermordeten Meisters im November 1975. Frankreich folgte nur kurze Zeit später, in ihrem so löblichen Bemühen den öffentliche Anstand zu schützen.

Den Anschein einer Freiheit

Anstand, Anstand, Anstand: Andacht.
Welcher Anstand möchte man gerne fragen?
Gab es das? Gab es das wirklich?

Diesen als so unfassbar verschrienen König der Synonyme, all diese Vokabeln, Worthülsen, die ihm zur Ehre seit Ur-Gedenken nach Belieben füreinander gesetzt und gesondert wurden und werden, um des Pudels Kern, die Freiheit, Gleichheit, Demokratie in ihrer Radikalität nicht nur zu denken, sondern auch nicht auszuhalten zu müssen von morgens früh bis abends spät.

24 Stunden an jedem Ort, an jedem Platz, im Tun und Lassen in einer neuen Welt, die nicht nur bloß connected, sondern grenzt. Ein Innen und ein Außen bloß? Das privatisierte Öffentliche gar?

Gemeinschaft, Ich-, Du-, Er-, Sie-, Es-Gesellschaft. Wir: Kein Ein-, kein Ausgrenzen, den Umständen des Vergangenen geschuldet, nur Ab-, nur Grenzung dessen, was den Rest des Anscheins einer Freiheit macht.

„Die langen Tafeln im Palazzo am Gardasee sind festlich gedeckt. Nackte Dienerinnen servieren das schokoladige Mahl. Einer der Gastgeber piekt mit seiner Gabel hinein und zerreibt genüsslich den braunen Brei zwischen den Lippen. Nicht alle schlemmen derart ausgelassen. Manche rümpfen angewidert die Nase, würgen die stinkende Speise mit von Ekel verzerrten Gesichtern hinab, mühsam gegen den Brechreiz kämpfend (Anm. d. Verf.: s.u. Video).

Das Bankett zeigt Pier Paolo Pasolini etwa in der Mitte seines Films. »Salò oder Die 120 Tage von Sodom« basiert auf einem Romanfragment des Marquis de Sade – »Höllenkreis der Scheiße« hat der Regisseur das Kapitel überschrieben. Bei dieser Szene verließen Zuschauer scharenweise den Saal, als der Film am 30. Januar 1976 in westdeutschen Kinos anlief. Noch heute und im Wissen, dass es sich bei den vermeintlichen Exkrementen tatsächlich um eine Mischung aus Schokolade und Orangenmarmelade handelte, sind die Bilder schwer auszuhalten. Vor 40 Jahren verursachten sie, wie oben bereits betont, einen internationalen Aufschrei“ (vgl. Volk, S. „Brechreiz bundesweit“, s.u. Kurzlink).

Es war Pasolinis Freund, der Schriftsteller Alberto Moravia, der gerade in dieser vermeintlichen Brutalität, dieser nackten, schamlosen Totalität die besondere Qualität hervorhob: „Pasolini bedient sich des Werks von de Sade wie eines Steins, den er der italienischen Gesellschaft entgegenschleudert. Seine provokatorische Absicht ist es, die Gesellschaft aus ihrer Deckung hervorzulocken, um sie dazu zu zwingen, sich ihrer Verkommenheit und ihrer widerspruchsvollen Verdammung der Homosexualität zu entledigen“ (vgl. ebd.).

Des letzten, vorletzten, vorvorletzten …

Homosexualität, geht es wirklich nur um das? Oder zeigt der Blick des Nachfolgenden, des vermeintlich verbundenen Menschen, des Auswurfs der neoliberalen Irrungen und Wirrungen nicht etwas viel Schrecklicheres, etwas viel Unerträglicheres? Eine Gesellschaft, die nicht nur in ihre Sch*** zu ersticken droht, sondern sie auch mit großem Eifer Tag für Tag in sich verschlingt, um sie als neuen Messias, als Gottes Geschenk, als Befreiung der Märkte zu huldigen.

Es ist, als ob wir den gordischen Knoten durchtrennt hätten, aber dennoch in zwanghafter Verkrampfung die beiden Enden des Seils in unseren vor Angst zitternden Händen hielten.

Aus Angst, uns selbst zu verlieren, werden wir dem Unvermeidlichen nicht gewahr: das Neue zu begreifen bevor es uns in seiner, dem Nichtstun, dem feigen Verharren geschuldeten, entgegengesetzten Pendelbewegung selbst ergreift.

Ein Neues, das nicht nur aus neoliberaler Marktfreiheit, den Algorithmen der Macht, sondern auch der Freiheit des Individuums, dem Wert des Lebens, der Liebe, der Würde des Einzelnen, der Freiheit und Erweiterung des Ichs gespeist ist.

Es ist Weihnachten. Ein Versuch wäre es wohl wert. Eine besinnliche Vorweihnachtszeit wünscht Ihnen

Ihr Ulrich B Wagner

*Vgl.: Volk, S.: „Skandalfilm »Die 120 Tage von Sodom«, Brechreiz bundesweit“, zuletzt abgerufen am 01.12.2016 unter folgendem Kurzlink: is.gd/WysNeF

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