DIE OR – Versuch über den politischen Skandal. Oder: Die Freiheit, die ich meine

Man könnte meinen, es sei ein Aprilscherz gewesen. Jan Böhmermann trägt in der Sendung „ZDF Neo Royal” ein Gedicht über den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan vor. Das Problem: Nicht jeder findet es komisch, vor allem nicht Herr Erdoğan. Nun hat er gegen den deutschen Satiriker einen Strafantrag gestellt. Wo bleibt hier die Meinungsfreiheit? Ist es tatsächlich ein Skandal? Darf sich Recep Tayyip Erdoğan überhaupt in seiner Würde angegriffen fühlen, oder nicht vielmehr in seiner Ehre? Unser Kolumnist Ulrich B Wagner hat sich bereits in seiner Diplomarbeit in Soziologie „Der Fall Dr. Jürgen Schneider – zur Soziologie des Skandals” mit der Funktion des Skandals in offenen Gesellschaften auseinandergesetzt. In seiner Kolumne „QUERGEDACHT & QUERGEWORTET” beschäftigt er sich nun ein zweites Mal mit dieser Thematik.

Willkommen in der Gegenwart!

„Endlich angekommen“, würde ich gerne freudig rufen, wenn nicht alles so traurig, beschämend und einfach nur zum Kotzen wäre.

Jan Böhmermann polarisiert, spaltet die öffentliche Meinung, von Gesellschaft an dieser Stelle erst einmal ganz zu Schweigen. Doch die öffentliche Meinung war (?), ist (!) und wird (?) immer volatil bleiben oder wie meine Oma immer zu sagen pflegte: „Morgen wird wieder eine andere Sau durchs Dorf getrieben!”

Gegenwärtig zu sein, mittendrin und nicht nur dabei zu sein, aufmerksam, mit allen Sinnen und durch und durch in der Jetztzeit zu sein, sie nicht nur zu erkennen, sondern auch ein aktiver Teil von ihr zu sein, war, ist und wird immer schwieriger, wenn nicht gar unmöglich sein und doch…

Spätestens dann wenn es, wie wir in Frankfurt zu sagen pflegen, ums Eingemachte geht, wird es nämlich nicht nur interessant, sondern sexy. Wie im wahren Leben, im knisternden Miteinander zwischen Männlein und Weiblein, Männlein und Männlein, Weiblein und Weiblein, sind es nämlich gerade die „einfachen“ Dinge, die das Leben aufreizend und erregend gestalten und an denen sich schließlich auch die Geister spalten.

Schlicht und einfach: Skandalös!

Doch gibt es sie überhaupt noch, die „echten“ Skandale, die „echten politischen“ Skandale? Oder haben wir dieses Wort in den letzten Jahren nicht nur so inflationär gebraucht, sondern auch unsere moralische Angepasstheit an die geistige Mittelmäßigkeit nicht nur so strapaziert, überdehnt und hinfällig gemacht, dass unser weichgespültes Hirn selbst dann nicht mehr Stellung beziehen kann, sondern schon so sehr, dass das Eingemachte bereits fast gänzlich in die große Toilette der neo-liberalen Konsenskultur und „Wir haben uns Alle lieb“ – Verlogenheitsscheiße gespült wurde?

„Seinem Humor fehlt die Wärme“, schrieb Georg Diez am Sonntag auf DER SPIEGEL online im Zuge der Böhmermann Debatte, um kurz danach wahrscheinlich einen tiefen Schluck aus der LENOR Flasche des neo-kritischen Journalismus über Political Correctness und die segensreichen Vorteile der Gleitzeit für deutsche Schüler zu sinnieren.

Freiheit, politische Freiheit, Meinungsfreiheit, Pluralität, Konflikt, Streitkultur, Skandal?

Von der Notwendigkeit des Skandalösen, vom politischen Skandal an dieser Stelle erst einmal ganz zu Schweigen? Nichts!

Eine große Leere, ein großes Nichts. Herzlich Willkommen in den Segnungen der Gegenwart, den Freiräumen neo-liberalen Profit- und Wohlfühlstrebens, die dem Gott der Gewinnmaximierung und der intellektuellen Schmerzreduktion huldigen und auf ihrer Überfahrt in die von allen Ecken und Kanten geglättete „Neue Freiheit“ erst die Sprache und die Worte verändern, um schließlich eine Wirklichkeit zu erschaffen, in der zwar alles möglich scheint, doch ohne Bedeutung, ohne Sinn und Kern ist.

Erst verändert sich die Sprache, die Kommunikation, die Bedeutung der Worte, die Begriffe und schließlich auch deren Symbolik. Was heißt für uns Freiheit? Wo beginnt sie und wo hört sie auf?

Über was reden wir: Welche Freiheit meinen wir überhaupt? Eine Freiheit in der die Würde des Menschen unantastbar ist oder doch nur „die Ehre“?

Der „Freiheitsbegriff der jungen Bundesrepublik Deutschland“ fußt auf der Ersetzung des Ehrbegriffs und war somit meines Erachtens, der zentrale Türöffner in die Möglichkeit einer offenen Gesellschaft. Erdogan ist nicht in seiner Würde angegriffen, er weiß nicht, was Würde überhaupt bedeutet, er fühlt sich in seiner Ehre gekränkt (Punkt). Es liegt an uns, was wir daraus machen.

Alles fließt, alles verändert sich und wir sind mittendrin

Es ist ein Wendepunkt an dem wir uns befinden, einem fundamentalen Dreh- und Angelpunkt dessen, was uns ausmacht: Was wir sind, wofür wir stehen, leben, kämpfen, oder auch nicht.

Es sind diese gesellschaftlichen Dreh- und Angelpunkte, an denen sich an der glatten Oberfläche, einer scheinbaren Inszenierungslogik, nicht nur darüber entschieden wird, ob es sich bei etwas, um einen bloßen Medienrummel oder doch um einen „echten Skandal“ handelt, in dem es um das Wesentliche geht, um den Kern dessen, der uns nicht nur zusammenhält, sondern unser Wesen in seiner Gänze bestimmt.

Mit Sicherheit gilt noch, wenn nicht noch mehr, die Einsicht, dass der feste Boden, ohne den ein schöner Skandal nicht erblühen kann, im 20. Jahrhundert schwankend geworden ist. Wie der damalige Redakteur der Süddeutschen Zeitung Christian Schütze bereits 1967 in seinem Buch „Die Kunst des Skandals – die Gesetzmäßigkeit übler und nützlicher Ärgernisse“ ausführte: „Heute herrscht weithin Unsicherheit, welche Normen für verbindlich zu halten seien…Daraus ergibt sich die rastlose Suche nach dem Skandalösen in der Absicht, zu erkunden, auf welchen Reiz hin die pluralistische Gesellschaft sich in allgemeiner Erregung zusammenfindet, wo die Toleranz zusammenbricht und der Spaß aufhört.“

Es liegt an uns, ob wir aus dem was die Böhmermann-Debatte gerade an die Oberfläche spielt zu einem Scheinkampf verkommen, der mehr dem Ballett eines Kampfes ähnelt als dem Kampf selbst, oder, ob wir die Dynamik des Skandals nutzen, um wieder ein wenig Gewissheit über das Wesentliche zu bekommen. Sei’s drum, es hängt ja nichts nicht mehr als unsere Zukunft in einer offenen und freien Gesellschaft davon ab. Die Segnungen des Kapitalismus gibt es mit Gewissheit auch jenseits von Meinungsfreiheit und offener, pluralistischer Gesellschaften…

 

Ihr Ulrich B Wagner

Kennen Sie schon die Leinwände von Inspiring Art?