Ein Tag am See… Versuch über die Ausdehnung der Seele

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Zeit zum Philosophieren. (Bild: © Ulrich B Wagner & Alistair Duncan / alistairduncan.de)

Wasser dehnt sich bei Hitze aus – die Seele auch? Man könnte es denken, wenn man den Gedanken von Ulrich B Wagner folgt. Ein Kurzurlaub am Bodensee bei sommerlichen Temperaturen hat ihn zum Philosophieren über die Seele, ihre Beschaffenheit und ihre Existenz in einem modernen gesellschaftlichen Kontext bewegt.

See, Seele, Hitze – in seiner heutigen Kolumne „QUERGEDACHT & QUERGEWORTET – Das Wort zum Freitag“ denkt Ulrich B Wagner über die Moderne nach.

Es ist heiß da draußen.

Die Luft flirrt, die Sonne brennt unbarmherzig vom Himmel herunter, dazwischen leichtbekleidete Körper, ein Lächeln, eine Haarsträhne, eine Geste, eine Bewegung, die einen Tanz der Seele eröffnen.

Doch davon später einmal wieder mehr…

Die Seele – ein veraltetes Konstrukt?

Ist die Seele per se nicht ein veraltetes Konstrukt, eine Fata Morgana, gar Opium fürs Volk und gehört mit Recht in die Mülltonne der Geschichte? Sie ist auf den ersten Blick kaum zu erkennen, vielleicht leicht bloß zu erahnen, zu erschmecken, ertasten, erspüren, aber kaum greifbar.

In unserem bis zum letzten Millimeter regulierten Leben, in dieser Sterilität der marktliberalen Vernunft, des Strebens nach Profit und Wohlstand, dieser durch und durch begradigten, gesäuberten Welt, in der wir wie im Film leben und das vermeintlich andere, selbst wieder nur wie im Film, aus unseren Sesseln müde und gelangweilt verfolgen, erschrickt.

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Die Luft flirrt. (Bild: © Ulrich B Wagner & Alistair Duncan / alistairduncan.de)

Ungewissheit und Mysterium

Ich für meine Person liebe dagegen dann doch von Zeit zu Zeit das Unregulierte, das vermeintlich Unergründliche, denn alles andere spricht doch nicht wirklich zur Seele.

Verfolgt man beispielsweise die Berichterstattung der letzten Tage über die wahrlich unmenschlichen Bedingungen, denen die syrischen Kriegsflüchtlinge derzeit nicht nur auf der griechischen Insel Kos ausgesetzt sind, hat dies nicht nur etwas sehr Trauriges, sondern könnte auch ein Stachel sein, endlich mal wieder wirklich die Wirklichkeit zu ergründen.

Glauben Sie mir bitte. Es liegt mir wahrlich fern, das Leid anderer Menschen zu mythologisieren. Kos ist überall, Kos ist erschreckend, ekelhaft und furchtbar, doch kann / könnte es auf der anderen Seite endlich auch eine Glocke anschlagen, eine Erfahrung, durch die das innere Auge sich aufschlägt, wie es Peter Handke einmal im Kontext des Balkankonflikts formulierte. Ein Aufschlagen des inneren Auges, das wiederum dazu führt, dass das innere Ohr zu hören beginnt.

Eine riesige Glocke nämlich, die aus vielen, vielen kleinen Gegenständen besteht, einem synästhetischen Symphonieorchester gleich, das sich in einem einzigen Wort wiederfindet und erfährt: Empathie.

Ein MIT…

Ich persönlich finde nämlich die Feststellung richtig, dass das MIT, das in der FÜRsorge impliziert ist, eine direkte Adressierung des Anderen als solchen auch ermöglichen muss.

Es nämlich wichtig und richtig, dem Anderen in dem MITGefühl, der Fürsorge auch immer auch die Freiheit zu schenken, die heißt: Du bist es, um den es geht, es liegt an dir, es zu machen, du hast es zu machen. Dies kommt irgendwie vielleicht auch dem ziemlich nahe, was heute ein Psychoanalytiker sagen würde oder was zumindest ein Lacanianer sagen würde.

Ein Lacanianer würde sagen …???… Im Prinzip würde er wahrscheinlich nichts sagen, womit er jedoch nicht gar nichts sagen würde.

Sich selbst nicht verlieren

Das Schweigen nämlich, das in diesem Moment zu hören versucht, geschieht auf eine Art und Weise, in der der Andere, der signifikante Andere, aber auch wir selbst, das Ich also, auf sich selbst verwiesen wird, auf ein Selbst, das sich selbst aus den Augen verloren hat.

Warum verlieren wir uns jedoch ständig selbst aus den Augen? Was sind die Hintergründe, was bewegt uns, was treibt uns dazu an? Gibt es vielleicht doch hinter all diesen Geschichten, der Geschichte an sich mit all seinen Katastrophen vielleicht doch etwas Magisches, einen roten Faden, Ariadnes Fäden vielleicht, die uns doch noch noch aus dem um sich selbst kreiselnden Labyrinth herausführen?

Was hält uns eigentlich noch zusammen und was bedeutet ein UNS, wenn das MIT schon fragil und zweifelhaft wird?

Unser Denken dekonstruiert den Zusammenhalt

Für Jacques Derrida, dem Übervater des Dekonstruktivismus, war, oder besser gesagt, ist das Übel in einem Denken verankert, das, sollte ich mich nun richtig erinnern, ein Denken darstellt, das sich über die Differenz am Grund aller Dinge hinwegsetzte, das nur noch zu sich selbst zurückkehre, sich seine Gegenstände, seine Ziele gewaltsam einverleibt, ein kaltes Denken, zahlengetriebenes Denken, das der binären Logik verhaftet sei, die wie das Schwert eines Henkers mitten durch unser aller Leben fährt: den Kopf vom Körper trennt, das vermeintlich Gute vom vermeintlich Bösen, das Richtige vom Falschen, das Notwendige vom Zufälligen, das Wichtige vom Unnützen, den Menschen vom Tier und das Männliche vom Weiblichen.

Ein Denken, in dem immer die eine Seite über die Andere siegt. Ein Denken innerhalb des Koordinatensystems von Dominanz und Ausschluss, von Drinnen und Draußen.

Seine, Derridas, Antwort auf diese Problematik, war dagegen eher einer philosophischen Handwerksarbeit vergleichbar, die nicht nur die alten Texte aufbrach und ins Offene, ins Unvorhersehbare verwies, die auf Unentscheidbarkeit setzte, auf eine permanente Beweglichkeit. Dies alles ist nunmehr fast 40 Jahre her und scheint irgendwie wie von Geisterhand Wirklichkeit geworden zu sein. Dekonstruieren wir uns nicht alle fortwährend und ohne Unterlass: Offenheit, Flexibilität, Beweglichkeit, Unentscheidbarkeit? Ist das Flottieren im Ungewissen, sowohl im politischen, als auch im privaten Raum nicht bereits etwas Alltägliches in unserer beschleunigten und zersplitterten Zeit?

Wie geht es weiter mit der Seele?

Für Jean Luc Nancy, Schüler von von Derrida und zur Zeit der wichtigste Weiterdenker des Dekonstruktivismus und Verfasser des schmalen Bändchen mit dem phänomenalen Titel Ausdehnung der Seele, das ein ständiger Begleiter auf meinem kurzen Abstecher am Bodensee war und mich auch zu der heutigen Kolumne verleitet hat, findet diese Situation dagegen nicht neu, sondern sie trete uns nur stärker ins Bewusstsein.

Alles schießt auseinander.

Nancy hat hierfür eine eher altertümliche Bezeichnung: Untergang des Abendlandes. Wir befänden uns nämlich genau in der Situation der Römer im 6. Jahrhundert n. Chr.: Auch sie ahnten, dass irgendetwas zu Ende geht. Doch was danach kommen sollte oder könnte, ließ sich weder vorhersehen noch vorstellen. Es ist genau das, was so viel Verwirrung stiftet und den Ruf nach etwas Verlorengegangenem, etwas Mystischem, etwas Übergreifendem laut werden lässt: Sinn.

Eins aber sollten wir gelernt haben, sagt Nancy: dass sich ein Mythos nicht erzwingen, Orientierung sich nicht verordnen lässt, ohne in der Katastrophe zu enden.

Was ist Europa eigentlich?

Auch unser Europa sei hierfür, wie die Horrornachrichten um Griechenland, um den Umgang der einzelnen EU-Länder mit der Flüchtlingsnot ja eindrücklich zeigen, beispielhaft. „Die EU kann nicht mehr gelingen, sagt Nancy. Die EU bräuchte eine Idee, eine Innerlichkeit, aber die kann es schon deshalb nicht geben, weil sie so sehr gewünscht und gewollt wird.“ Oder, mit der dekonstruktiven Lust am Paradox formuliert: „Europa wird es nicht geben, weil es Europa schon gab. Als keiner darüber sprach.“ Nancy meint das Europa der Kaufleute zur Zeit der Renaissance, das Europa der Fürstenhöfe, das Europa der Hauptstädte im 19. Jahrhundert und nicht das des Verfalls und des Untergangs.

Es geht um Freiheit, um Sinn, der uns zwar vom Fluch der Individualität erlöse, zugleich aber nichts sei, worauf man pochen, woran man sich halten könne. Und die Dekonstruktion, sagt er, sei der Versuch, sich zu orientieren, ohne eine Richtung einzuschlagen.

Es geht um Sinn… Um Sinn und Sinnlichkeit. Vielleicht hilft es ja wirklich einmal die schönen Tage genießend sich wieder zu öffnen, sich selbst, aber auch einem uralten Thema von Körper und Seele, aber insbesondere auch der Ausdehnung der Seele an sich. Denn nur sie spiegelt sich wirklich in uns, in unseren Körpern, unseren Bewegungen, unserer Haut. Was gibt es schöneres an einem sonnigen Tag am Strand oder …?

Leseprobe: Die Ausdehnung der Seele

Die Ausdehnung der Seele von Jean – Luc Nancy (diaphanes, 2015), eine Leseprobe:

„Was spürt ist die Seele. Doch die Seele spürt zuerst den Körper. Sie spürt ihn, der sie enthält und zurückhält, von allen Seiten. Denn wenn er sie nicht zurückhielte, entwiche sie ganz in dunstigen Worten, die sich am Himmel verlören.

Der Körper ist eine Hülle: Er dient also dazu, zu enthalten, was es anschließend zu entfalten gilt. Die Entfaltung ist endlos. Der endliche Körper enthält das Unendliche, das weder Seele noch Geist ist, sondern die Entwicklung des Körpers.

Der Körper ist bloß eine Seele. Eine runzlige Seele, feist oder hager, behaart oder kahl, rau, geschmeidig, knackend, anmutig, furzend, schillernd, perlmuttern, bekleckert, mit Organdy bedeckt oder in Khaki getarnt, bunt, ölverschmiert, mit Wunden bedeckt, voller Warzen. Er ist eine Akkordeon-, Trompeten-, Bratschenbauch-Seele.

Der Hals ist steif und man muss die Herzen ergründen. Die Leberlappen zerschneiden den Kosmos. Die Geschlechter werden feucht.“

Hier liegt sie vielleicht verborgen, die Lösung aller Probleme: in unserer Seele und und in ihr der Sinn, der in der Lage ist alles zusammenzuhalten.

Sinnlichkeit kann hierfür ein Weg sein. Kein Sexismus, sondern Sinnlichkeit, kein Hunger, sondern Appetit, kein neoliberaler Wahn der Märkte, sondern eine soziale Marktwirtschaft, kein Verschleiern, sondern ein Entblößen, keine Verbote, sondern Ermunterungen dazu, das Unmögliche nicht nur zu fordern, sondern es auch Wirklichkeit werden zu lassen.

Ihr

Ulrich B Wagner

Über Ulrich B Wagner

Ulrich B Wagner, irrsinn, das positive denken
(Foto: © Ulrich B. Wagner)

Ulrich B Wagner (Jahrgang 1967) ist Diplom-Soziologe, Psychologe, Schriftsteller und Kolumnist. Sein Studium der Soziologie, Psychologie & Rechtswissenschaften absolvierte er an der Johann Wolfgang von Goethe Universität, Frankfurt am Main. Zusammen mit Professor Karl-Otto Hondrich arbeitete er am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an einer Reihe von Forschungsprojekten zum Thema „Sozialer und kultureller Wandel“.

Ulrich B Wagner ist Dozent an der european school of design in Frankfurt am Main mit dem Schwerpunkt  Kommunikationstheorie, Werbe- und Konsumentenpsychologie, sowie Soziologie und kultureller Wandel und arbeitet als Berater sowie systemischer Coach mit den Schwerpunkten Business- und Personal Coaching, Kommunikation und Konzeptentwicklung, Begleitung von Veränderungsprozessen
und hält regelmäßig Vorträge und Seminare.

Zu erreichen: via Mail ulrich@ulrichbwagner.de, via Xing und Facebook (Ulrich B Wagner).

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