Pokémon goes Punk. Illusion trifft Wirklichkeit und alles bleibt wie es ist

Gestern war es so weit. Die gamescon 2016 hat ihre Tore geöffnet. Ein ganz großes Thema werden Spiele für das Smartphone sein. Zwar nicht nur, aber vor allem dank des großen Erfolges von Pokémon Go. Ein Spiel, welches die Grenzen zwischen Fantasie und dem, was wir Wirklichkeit nennen, verwischen lässt.  Ulrich B Wagner zeigt uns im aktuellen Beitrag seiner Kolumne „QUERGEDACHT & QUERGEWORTET – Das Wort zum Freitag“ wie uns die kleinen Pokémons dabei helfen können, unsere Sicht auf die Wirklichkeit einmal wieder ordentlich anzupassen.

„Pokémon Go“ ist Ideologie!

Slavoy Žižek, DIE ZEIT Nr.34, 11.08.2016

Nichts scheint (mehr) greifbar, anfassbar und angreifbar

Es gibt vieles aus dem sich als Ottonormalsterblicher heraus- und herabfallen lässt, willentlich oder auch nicht.

Wir purzeln durch die Ereignisse, rutschen, klitschen über Oberflächen, die in Folge der alles beherrschenden Beschleunigung sich permanent verwandeln und dann abends, wenn Ruhe einkehrt, doch wieder und wieder nur das Selbe widerzuspiegeln scheinen (?).

In den letzten zwei Dekaden hat sich mit uns, in uns und um uns herum, ohne Frage einiges, wenn nicht alles, gefühlt auf alle Fälle, so rasend schnell verändert, dass das in dem wir leben für die meisten von uns nicht mehr begreifbar ist.

Dies mit Sicherheit nicht allein aus dem wohl augenscheinlichsten (?) Momentum heraus, dass das Meiste davon nicht (mehr) greifbar, anfassbar und angreifbar scheint, da es einer anderen Form der Bewusstheit nicht nur entsprungen, sondern in dieser auch heimisch ist. Vielleicht gilt es aber auch nur, endlich zu realisieren, dass es das auch noch nie wa(h)r.

Die digitale Sphäre ist eine virtuelle

Bis zu einer wie und wo auch immer zu verortenden Grenze mit Sicherheit noch. Doch was passiert in den Räumen dazwischen, nicht nur mit uns, sondern mit dem was wir bisher so »en passant« als Wirklichkeit bezeichnet haben?

Virtualität ist bekanntermaßen, nicht (nur) durch das Medium Internet determiniert, sondern weist als Sphäre des Möglichen, als gedachter und/ oder geglaubter Möglichkeitsraum weit über das „reine“ Medium hinaus.

Virtualität = Menschsein. Seeing is Believing. Jede Zeit erzeugt aber auch ihre Bilder. Bilder sind (geglaubte) Wirklichkeit und Glaube versetzt nun einmal Berge oder zerschellt an diesen.

So oder so (!?). Den Rest klärt in der Regel die Geschichte

Gestern hat in Köln unter enormen Sicherheitsvorkehrungen die gamescom für Alle ihre Tore geöffnet und vielleicht ist es ja auch mehr als ein Treppenwitz der Geschichte, dass gerade die Türkei das Partnerland auf dem weltweit größten Messe- und Eventhighlight für Computer- und Videospiele ist. Wer weiß? Die Grenzen sind fließend geworden und das nicht erst seit „Pokémon Go“.

Pokémon Go ist ein positionsbezogenes Spiel für mobile Endgeräte mit einer Spielumgebung nach dem Prinzip der erweiterten Realität (Augmented Reality-Modus), in dem die Spieler GPS und die Kamera des Smartphones benutzen, um diese seit fast 20 Jahren bekannten netten, knuddeligen, „virtuellen“ Wesen zu fangen, zu trainieren und mit ihnen gegen andere Trainer und ihre Entourage zu kämpfen.

1990 begann mit der Abschaltung des apranet die große kommerzielle Nutzung des Internet und Nintendo flutete zeitgleich mit ihrem von dem Japaner entwickelten Computerspiel „Pokémon“ nicht nur die Kinderzimmer des europäischen Kontinents, sondern auch die Aktenkoffer und Handtaschen vieler vermeintlich Großer. Vieles, auch wenn ich mich wiederhole, vieles hat sich seit diesen Jahren verändert.

Menschen fielen aus der Wirklichkeit

Pokémon neben Mann vor einem Bücherregal
Der Pokémon schaffte es aus der virtuellen Fantasie mitten rein in das, was wir Wirklichkeit nennen. (Foto: © Ulrich B Wagner / virtual67)

Die Mauer fiel. Der Ost-West-Konflikt schien beendet und der Siegeszug des neoliberalen Kapitalismus kam auf Hochtouren. Menschen rannten, liefen oder fielen – halt, mehr geschubst als selbst verschuldet – aus der Wirklichkeit. Die Zeiten hatten sich halt verändert. Nur richtig wahrgenommen in ihrer alles durchdringenden Dimension und Tragweite hatte es wohl keiner bisher.

Nun können wir es seit Mitte Juli hier bei uns in den Händen halten und anfassen: Unser Blick auf die Wirklichkeit und unser Umgang mit ihr – und in ihr – wird vom konstruierten (Fantasie-) Bild des in den Händen befindlichen Smartphones gelenkt und vorgeformt. Max Schelers „Ressentiment im Aufbau der Moralen“ für Schmitt und Müller als nicht deklarierte Nebenwirkung auf dem virtuellen Beipackzettel.

Es ist der Augmented Reality-Modus, der alles zu verändern scheint. Anstatt uns aus der (geglaubten) Wirklichkeit herauszureißen und in eine virtuelle Realität mitzunehmen, verbindet Pokémon beide Welten. Macht dich durchlässig und damit aber auch durchgängig. Dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek kommt das In DIE ZEIT vom 11. 08. 2016 alles bekannt vor – selbstverständlich! Denn die Technologie von Pokémon GO läuft auf nichts anderes heraus, als die Externalisierung des Grundmechanismus von Ideologie. In ihrem Kern ist Ideologie, also falsches Bewusstsein, die ursprüngliche Version der augmented reality, der erweiterten Realität.*

Pokémon, Hitler und die Juden

Laut des Philosophen und selbst ernannten Internet- und Virtual Reality-Experten handelt es sich bei dem bereits nur 13 Stunden nach dem Launch erfolgreichsten als App heruntergeladenen Spiels aller Zeiten um bloße Ideologie, und zwar von der schlimmsten Sorte. Schließlich habe ja auch Hitler schon überall „ein besonderes Pokémon“ gesehen, nämlich „den Juden“. Wir sollten unsere Smartphones daher wohl oder übel as quick as possible entnazifizieren. Ist da dann doch nur einer mal wieder aus der Zeit gefallen?

Für mich gesehen gibt es nämlich deutlich mehr Parallelen zu einer der radikalsten Jugendkulturen, die ab Mitte der 70er Jahre zunächst in New York und London, später in Paris, Berlin und Düsseldorf ihren Ausgangspunkt nahm und nicht nur eine musikalische Revolte auslöste, sondern auch für eine neue Form nonkonformistisches Verhalten und eine provozierende neue Moderichtung steht: Punk.

Beide haben sie die Menschen nicht nur maßgeblich verändert, sondern wurden gerade auch in Folge ihrer Radikalität und Durchgängigkeit wie nichts anderes in Raketengeschwindigkeit kommerzialisiert und in das Bestehende integriert.

Vivienne Wetswoods erster Klamottenladen „SEX“, den sie mit Malcolm Mc Laren Ende der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in London eröffnete, symbolisiert es. Die Übertrumpfung von „SEX“ als Suchbegriff durch „Pokémon“ bei Google aber auch.

„Do it youself“ und „No Future“ war das Schlagwort der Jugend. Willkommen im Zeitalter der Narzissten?! Vielleicht helfen uns die kleinen Pokémons ja auch unsere Sicht der Wirklichkeit einmal wieder ordentlich anzupassen – wer weiß?

In diesem Sinne noch weiterhin schöne Urlaubstage.

Ihr Ulrich B Wagner

* Vgl.: Slavoj Žižek: „»Pokémon Go« Dieses Smartphone-Spiel ist Ideologie“, in: DIE ZEIT Nr. 34, vom 11.08.2016, S. 43

Kennen Sie schon die Leinwände von Inspiring Art?