Dadaisten des Untergangs … . Eine Auflösung (Auslöschung)

Weg mit der Trennung zwischen Kunst und Alltag riefen die Dadaisten in den 1920er Jahren. Die Welt des Faktischen – wenn es sie je gab – wird dadurch auf das Prinzip der Imagination reduziert. Mit welcher Wucht uns die damit verbundenen Folgen trifft, macht uns Ulrich B Wagner im heutigen Beitrag seiner Kolumne „QUERGEDACHT & QUERGEWORTET – Das Wort zum Freitag“ deutlich.

Inhaltsverzeichnis

„DADA DADA DADA,

hurlement des douleurs crispées, entrelacements, des contraires et de toute contradictions, des grotesques, des inconsequences: LA VIE“

Tristan Tzara, 1918

Weg mit der Trennung

In meiner letzten Kolumne versuchte ich es selbst. Es misslang – oder auch nicht? Ich weiß es nicht … .

Weg mit der Kunst, weg mit dem Alltag, weg mit der Trennung zwischen Kunst und Alltag riefen die Dadaisten in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. In der Hoffnung, dass sich dadurch freie, grenzenlose Räume auftun, in denen sich die Fantasie, aber auch das Leben frei entfalten können.

Doch es sollte anders kommen. Eine Tatsache, die wir heute leider sehr gewalttätig, sehr blutig und sehr erschreckend überall, jenseits aller bisherigen Grenzen, ob räumlich, moralisch oder kulturell, auf dieser Welt zu spüren bekommen.

Grenzen? Völlig belanglos!

Es war meiner Meinung nach Thomas Friedman, der als erster in seinem Buch »The World is Flat« vor über zehn Jahren sehr anschaulich aufzeigte, dass die neuen Technologien und das multinationale Kapital die Welt in eine Richtung verändern, in der traditionelle Grenzen und Aufteilungen belanglos werden.

Alles ist offen, alles wird möglich, nicht nur hier oder dort, sondern überall auf dieser Welt und dies auch noch jeden Tag, zu jeder Sekunde, zu jedem Augenblick.

Alles scheint losgelöst, frei und unbegrenzt. Eine Tatsache, die seit Ewigkeiten, als Hoffnung, als Monstranz auf ein besseres, ein glücklicheres und freieres Leben durch die Welt getragen wurde.

Doch die Wirklichkeit, falls es diese an sich überhaupt noch zu geben scheint, zeigt ein anderes Gesicht. Eine Fratze der Angst, des Terrors, der Verzweiflung und des Todes.

Und glauben sie mir, es ist, mit Gewissheit nicht (nur), wenn überhaupt dem islamistischen Terror geschuldet. Ja, auch ich sehe und weiß im Rahmen des mir vorliegenden, dass die Shuhada scheinbar politisch, ideologisch und religiös motiviert ist. Doch das ist so flach, so flach gedacht, flacher noch als die Welt, die nicht nur Thomas Friedman prophezeite.

Suizid: Deutschland (glücklicherweise noch) im hinteren Drittel

Denn „die“ Motivation zur Selbsttötung mit Nebenfolgen, die wir heute schmerzlich erfahren und eine Ahnengalerie besitzt, die bis auf unseren guten alten Herostrat zurückgeht, ist dennoch bloß nur die reine Oberfläche.

Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) begeht alle 40 Sekunden (!!!) ein Mensch auf dieser Welt Selbstmord (Stand 2015). In Summe also etwas mehr als 800.000 Menschen pro Jahr. Prognosen gehen davon aus, dass sich diese Zahl im laufenden Jahr nochmals drastisch auf fast 900.000 erhöhen wird.

Allein in Deutschland lieg die Rate etwas über 10.000 Fällen pro Jahr (!!!). Was bedeutet, dass auch in unserem Land, das im internationalen (glücklicherweise noch) im hinteren Drittel liegt, mehr Menschen durch Suizid sterben als durch Verkehrsunfälle, Drogen und HIV, und zwar zusammen genommen. In der Regel sind die Suizidanten männlich. In Deutschland bringen sich drei mal so viele Männer als Frauen um. In Russland sind es sogar fünf mal mehr.

(Selbst-) Mord oft der einzige Ausweg

In den letzten 30 Jahren sank die Zahl der Suizide in Deutschland zwar kontinuierlich, was vor allem an der bis vor Jahren noch vergleichsweise wirtschaftlichen Stabilität lag. Denn – wen wundert es – steigen in Krisenzeiten die Suizidzahlen drastisch.

Wer den Entschluss fasst, sein Leben zu beenden, empfindet dieses in der Regel als unerträgliche Last und den Tod als einzig möglichen Ausweg – insbesondere auch dann, wenn einem auch noch Jungfrauen ohne Unterlass versprochen werden. Aber auch den Mord als die einzig mögliche Rache an denen, die sie im „wahren“ Leben verarscht, gedemütigt, hintergangen, belogen, missbraucht und beleidigt haben (ob nun tatsächlich am eigenen Leib mit all Sinnen gespürt oder nur psychisch, als Druck oder Überforderung empfunden).

Denn wie der italienische Philosoph Franco „Bifo“ Beradi es sehr eindrücklich in seinem Buch „Helden – über Massenmord und Suizid“ aufzeigt, liegt wohl oder übel die wahrscheinlichste Ursache für den so raschen Anstieg der Selbstmordrate (und wie gesehen nicht nur die der Selbstmordattentäter der ISIS oder welcher bekloppten Vereinigung auch immer, die mit Gewissheit auch als Morde betrachtet werden müssen) in der Verwandlung des gesellschaftlichen Lebens, in eine Fabrik des Unglücks und der grenzenlosen Verzweiflung, der sich scheinbar unmöglich entkommen lässt. Und falls doch, dann nur – ob nun finanziellen, intellektuellen oder psychologischen – Mitteln, die außerhalb ihrer gefühlten Reichweite liegen.

Ein wenig niedergeschlagen vielleicht, aber ansonsten … ?

Achtung und dies, wenn wir wirklich gewillt sind ordentlich hinzuschauen, nicht nur bei Menschen mit islamistischen Hintergrund, was der Fall des jungen, deutschen, katholischen (!!!) Piloten Andreas Lubitz aus dem vergangenen Jahr beweist, der eine vollbesetzte Maschine der Lufthansa-Tochter Germanwings mit unschuldigen, Menschen, Erwachsenen und Kindern gegen einen Berg knallte.

Oder nehmen Sie den Verwirrten, der 2012 während einer Batman Premiere in den USA, selbst als Joker verkleidet, in den vollbesetzten Publikumsraum ballerte. Eine perverse Tat, die am anschaulichsten die DADA-Parallele aufzeigt … .

Verzweifelte, depressive, teilweise pathologische Fälle, so zeigt es der Fall Lubitz, der seinem Arbeitgeber das ärztliche Attest seiner schweren depressiven Erkrankung unterschlug. Depressiv? Wir? Niedergeschlagen von Zeit zu Zeit vielleicht ein wenig, aber ansonsten?

Nein!!!
Wir fühlen uns gut!
Wir sind leistungsstark!
Wir sind effizient!
Dynamisch!
Energisch!
Zielorientiert!

Im DADA müssen Ereignisse nicht bewertet werden

Wir sind wettbewerbsfähig und ein erfolgreicher Teil des Prinzips, eines universellen, grenzenlosen Konstrukts, eines von allen Grenzen und Begrenzungen (auch der moralischen, gemeinschaftlichen und auf das Wohl der anderen bezogener), das man soziologisch betrachtet, mit Recht als semio-kapitalistisch bezeichnen darf.

DADA und das Leben bilden einen Rahmen innerhalb dessen sich ein Spektrum aus lebensweltlichen Erfahrungen Platz verschafft, die von uns bisher aus einem, mit Sicherheit sehr hilfreichem Orientierungsbedürfnis, dem Wunsch nach Ordnung, in Widersprüche, Brüche und Gegensätze eingeteilt war.

Denn auch im DADA müssen ähnlich wie bei den Selbstmordattentätern, welcher Couleur auch immer, die Ereignisse nicht mehr weiter interpretiert und gewertet werden.

Wir haben den Sinn verloren

Die Welt des Faktischen, falls es sie überhaupt je gab, muss nicht mehr interpretiert und gewertet werden, sondern dürfen ungedeutet (oder im Deutungsrahmen einer „Religion“ und was auch immer) stehen bleiben.

Sie bleibt, „frei“, vollkommen losgelöst, aller Tatsachen, Ecken und Enden. Die frei gewordene Energie nutzt der Dadaist für eine „neue Welt“.

Die Welt des, wenn sie überhaupt noch als solches anerkannt wird, Faktischen wird auf das Prinzip der Imagination reduziert und somit zum einzigartigen Konstruktionsprinzip der sozialen Wirklichkeit. Mit allen – heutzutage mit aller Wucht – auftretenden Folgen und Terroranschlägen.

Wir haben den Sinn verloren, wenn nicht gar getötet und dabei vergessen, denen eine Welt, eine Realität und Sinnhaftigkeit, wenn nicht zu lassen, dann wenigstens gemeinsam eine Neue zu geben.

Doch vielleicht ist noch Zeit. Zeit bevor es finaler und allumfassender wird: Nutzen wie sie!

In diesem Sinne, wünsche ich uns allen Kraft und Energie sich gegen die Sinnlosigkeit des Wirtschaftens, des Tötens der Intoleranz – hüben wie drüben – aufzulehnen.

Ihr Ulrich B Wagner

Kennen Sie schon die Leinwände von Inspiring Art?